Wenn man das Glück und die Möglichkeit hat, einige Tage italienische Landschaften zu durchstreifen, durch kleine Städte und verschlafene Dörfer zu schlendern, die malerisch oft an Hügelhängen kleben, kann man gar nicht umhin, irgendwo kurz nach Sonnenuntergang einer religiösen Prozession zu begegnen. Dabei wird auf Männerschultern eine Heiligenfigur durch die von Menschen gesäumten Straßen getragen stets von einer Musikkapelle begleitet und einem Gläubigertross gefolgt.
Es sind Momente, da scheint die Zeit still zu stehen. Der mittelalterliche Geist, den die meisten italienischen Ortschaften unaufdringlich ausstrahlen, potenziert sich und gebietet, den historischen Bogen weit hinaus über das Italienische zu erweitern. So geschehen vor 8 Wochen in einer umbrischen Kleinstadt, wo ich den Augenblick, meine Gedanken schweifen zu lassen, gerne wahrgenommen habe.
Sie sind an dem deutschen Mönch hängen geblieben, der vor mehr als 500 Jahren umbrische Wälder und Olivenhaine hat durchqueren und wo ihm gewiß ähnliche Prozessionen begegnet haben müssen, um an sein Ziel zu gelangen: die Ewige Stadt.
Unser Reformator. Als unbekannter und unbedeutender Mönch macht er sich vor mehr als 5 Jahrhunderten auf den Weg nach Rom. Kaum ist er da angekommen, muss die geistige und geistliche Ernüchterung ziemlich heftig gewesen sein. Hier hat die Reformation gleichsam ihren Anfang: die Wittenberg-Szene im Oktober 1517 ist eine logische Folge des Aufenthalts in Rom. Luthers „Italienische Reise“ ist eines der Ausgangspunkte dessen, was wir in diesem Jahr als Reformationsjubiläum feiern.
Aber: was feiern wir eigentlich?
Es wäre sehr zu begrüssen, und es täte uns allen gut, wenn wir versuchen würden, gesellschaftliche und historische Ereignisse so weit wie möglich „objektiv“ also losgelöst von heutigen Sichtweisen zu beurteilen. Mit anderen Worten: Historisches nicht strikt durch das Filter gegenwärtigen nur für unsere Zeiten massgeblichen Denkens zu betrachten.
Das Lutherjahr soll Martin Luther gerecht werden.
Um es vorweg zu nehmen: eine durch und durch säkularisierte Welt wie die unsere kann Martin Luther definitiv nicht gerecht werden. Sämtliche Versuche sind zum Scheitern verurteilt, wenn man nicht wirklich im Stande ist, nach zu vollziehen, worin Luthers und der anderen Reformatoren größte Leistung bestand. Es kann einfach nicht wirklich funktionieren: Historisches durch die Gegenwartsbrille betrachten und erklären zu wollen.
Der transzendentale Ansatz im menschlichen Geist, der Versuch und die ehrliche Hingabe sich mit dem undenkbar Undenkbarsten auseinander zu setzen, ist europäischen Gesellschaften zum großen Teil längst abhanden gekommen.
Das Phänomen „Glaube“ ist merkwürdigerweise aber nie abhanden gekommen. Lediglich die Glaubensinhalte haben sich im Laufe der Zeit mit fast jeder neuen Generation gewandelt. Ein Götze nach dem anderen folgte in einer schier unendlichen Reihenfolge und sie alle haben nie gehalten, was sie einst versprachen. Was Götzenanbetung anbelangt macht unsere Welt keine Ausnahme. Im Gegenteil. Noch nie war die Anzahl der anbetungswürdigen Götzen so mannigfach und zahlreich wie in der heutigen Zeit.
So gesehen ist es geradezu zweck- und wirkungslos, Luthers wirkliche Leistung in Erinnerung zu rufen.
Nichtsdestotrotz: ich tue es. Auch deshalb, weil mir Berührungsängste mit dem undenkbar Undenkbarsten fremd sind.
Was hat er also reformiert? (Nebenbei sei vermerkt: der Begriff „reformieren“ ist nicht eine Entlehnung aus dem Lateinischen, sondern eine Erfindung deutscher Latinisten.) Hat der deutsche Mönch den Glauben reformiert? Mitnichten. Er hat die von Menschen um den ur-christlichen Glauben herum aufgerichtete Zwangsjacke beseitigt, er hat die von vielen Menschengenerationen vor ihm errichtete Ummantelung des reinen ursprünglichen Glaubens mit unsinnigem und dadurch nutzlosem geistigen und geistlichen Müll gesprengt.
Es war Luthers tiefste Überzeugung, dass Gott selbst festgelegt hat, was für alle Menschen wahr und wirklich ist und was gilt.
Und dass es die Würde eines jeden Individuums ist, darauf in uneingeschränkter Freiheit antworten zu dürfen.
Solus Christus – so haben Luther und alle anderen Reformatoren eine ihrer Kernaussagen auf den Punkt gebracht. Wen ficht das heute noch an? Wer kennt noch die anderen drei Kernaussagen der Reformation?
Sola gratia. Sola scriptura. Sola fide.
Unsere säkularisierte – auf gut deutsch: gottesferne – Welt tut so, als ob sie Luther feiert. Der unserem Zeitgeist entsprechende kritische Geist feiert den entkernten Luther und sucht, weil verbissene kritische Unnachgiebigkeit heute als das einzige Gütesiegel intellektueller Daseinsberechtigung gilt, nach dem sprichwörtlichen Haar in der Suppe. So ist z. B. Luthers Antisemitismus fast schon entscheidendes Urteilskriterium seiner einmaligen Lebensleistung. Das ist auch leicht nachzuvollziehen, wenn man mit Luthers alles entscheidendem Solus Christus nichts anfangen kann.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. So sehr dieser Satz für unsere westliche Zivilisation als sakrosankt und die heilige Kuh des der Aufklärung geschuldeten Geistes gilt, so nüchtern muss festgestellt werden, dass diese Würde, verliehen von Menschen an Menschen, tausendfach unentwegt zu allen Zeiten und in allen gesellschaftlichen Ordnungen verletzt wurde und wird. Nie wurde diese hehre Idee heiliges, unverletzbares Leitbild. Die Würde des Menschen wurde und wird immerfort und unentwegt verletzt.
Es ist merkwürdig. Aber es gehört zu Luthers tiefster Überzeugung: Gott hat die Würde des Menschen und seinen freien Willen niemals angetastet. Der allmächtige Gott, lehrte uns der deutsche Mönch, setzt sich selbst die Grenze: den freien Willen, den Er dem Menschen gegeben hat.
Allein schon diese Überlegungen machen Lust, sich wieder dem Ungreifbaren und Unverfügbaren zu nähern. Es wäre sehr in Luthers Sinne. Dann und nur dann dürften wir behaupten, dass wir ihn gebührend und angemessen feiern.
Dazu folgendes Zitat:
„Je mehr man sich mit der Welt beschäftigt, je mehr man sich damit auseinandersetzt, was gut ist und was böse, und je mehr man sich den großen moralischen Fragen der Gegenwart stellen muss, umso wichtiger ist der Stern, der einen leitet.“. Was der Urheber dieser Zeilen mit dem „Stern“ meint, bleibt sein Geheimnis. Ich glaube aber nicht, dass er damit den Polarstern oder irgend einen anderen Himmelskörper im Sinne hatte.
Die Worte stammen übrigens nicht von einem Geistlichen. Auch nicht von einem mittelalterlichen Mystiker.
Es sind Worte von Barack Obama.
Sie würden sich – bei einer Mass Bier – vermutlich gut verstehen: Martin und Barack.