500 Jahre Reformationsjubiläum.
Im letzten Beitrag habe ich einige Betrachtungen über das gestörte Verhältnis unserer Welt zu Luther angestellt. Dabei ist auch Luthers Antisemitismus kurz zur Sprache gekommen. Zu beschönigen ist da nichts: insbesondere der gealterte Luther hat wenig bis gar kein diplomatisches Geschick hinsichtlich des Judentums bewiesen. Von politischer Korrektheit war er genau so weit entfernt wie D. Trump von einem soliden vertrauenswürdigen Staatsmann.
Es ist vielerorts in unserer Heimat in Vergessenheit geraten und es wird – gewollt oder auch nicht – unter den Teppich gekehrt: der Israelsonntag im Kirchenjahr der Evangelischen Kirche in Deutschland, der das Verhältnis von Christen und Juden zum Thema hat. Er wird am zehnten Sonntag nach Trinitatis begangen, was meistens auf einen der ersten drei Augustsonntage des jeweiligen Jahres fällt.
Es war niemand anders als Martin Luther, der rebellische Mönch und für viele der verbissene Antisemit, der diesen Tag als Feiertag einsetzte, um sich mit den Juden solidarisch zu erklären, die an diesem Tag Tischa BeAw (9. Aw) der Zerstörung Jerusalems gedenken. Am 9. Aw wurde nach Überlieferung im Jahr 586 v. Chr. der Erste Tempel durch Nebukadnezar und 70 n. Chr. der Zweite Tempel durch Titus in Schutt und Asche gelegt. Daher gehört der 9. Aw zu den Trauer- und Fastentagen des Judentums.
Der Israelsonntag könnte ein Tag der Solidarität mit dem „Gottesvolk“ der Juden sein – ein Tag der Trauer und Buße im Bekenntnis des eigenen individuellen und kollektiven Versagens, auch gegenüber dem jüdischen Volk.
Aber Israel war, ist und bleibt ein ganz heisses Eisen. Warum?
An Israel haben sich immer schon und offensichtlich werden auch künftig die Geister scheiden. Warum?
Israel war und ist eine einzigartige geistige, theologische und vor allem geschichtsphilosophische Herausforderung. Warum?
Schier unendlich könnte man weitere israelbetreffende Fragen stellen und das staunende Warum dahinter setzen. Das Phänomen Israel sprengt die Grenzen jeder von Menschen ausgedachten geistigen oder wissenschaftlichen Annäherungsversuche. Ob Soziologie, Ethnologie, Biologie, Psychologie oder Theologie: alle erforschen und definieren lediglich einen einzigen Aspekt der vielschichtigen Wirklichkeit. Sie alle, inklusive die historische Wissenschaft, die ebenfalls außer Stande ist, die Geschehnisse der vergangenen vier Jahrtausende in und um das Heilige Land „dingfest“ zu machen, sind durch die einzigartige Einmaligkeit dessen, was im, am und um das Judentum passiert, gnadenlos überfordert. Die einzig verbliebene Erklärung dieses Überfragtseins ist somit, dass die Herangehensweise sämtlicher wissenschaftlicher Methoden an dieses Phänomen zumindest fragwürdig ist, oder – aus verschiedensten Gründen – weitere Aspekte einfach ignoriert und außer Acht lässt. So könnten z.B. Aspekte außer Acht gelassen werden, weil der Zeitgeist oder die politische Korrektheit es erfordern.
Ich gebe zu bedenken: dem Zeitgeist und dem political correctness sich zu unterwerfen, ihm sogar zu huldigen, sollte jeden nachdenklich stimmen. Im Dritten Reich hatte es nichts gegeben, was politisch korrekter war, als jemanden als Juden zu beschimpfen. Jeder, der kommunistische Verhältnisse erlebt hat, weiß, dass nichts politisch korrekter war, als über westeuropäisches Sein und seinem demokratischen Geist zu schimpfen gepaart mit scheinheiliger Speichelleckerei gegenüber den Machthabern. Drastisch ausgedrückt ist political correctness nichts anderes als eine Hure der Zeit, die sich den jeweiligen politischen Umständen geschmeidig und anstandslos anpasst.
Ich bekenne freimütig, dass ich nicht im Stande bin, dem Phänomen Israel auch nur annähernd gerecht zu werden. Ich widersetze mich aber dem Zeitgeist, der von mir fordert, dass ich Aspekte außer acht lasse, die nicht zu leugnen und obendrein gründender Bestandteil unserer westlichen Zivilisation sind. Welche Vernunft gebietet mir, die Stimme von geistig harmlosen aber von einem reinen Glauben beseelten Wanderprediger zu ignorieren, von denen Sätze stammen – wie in Fels gemeißelt – die von keinen historischen Geschehnissen grundsätzlich jemals widerlegt worden sind? Welche Vernunft gebietet mir, Sätze wie die folgenden leichtfertig als Märchenstunde abzutun:
„Jerusalem ist ein Taumelbecher und ein Laststein für alle Völker, die sich wund reißen, wenn sie ihn beseitigen wollen.“ Oder: „Bevor das Volk Israel aufhört zu existieren, werden Sonne, Mond und Sterne vergehen.“ Genauer und selbstbewußter kann eine an die Zukunft gerichtete Botschaft – sie stammt übrigens vom Propheten Sacharja – nicht sein!
Woher aber diese selbstbewußte Klarheit? Woher diese förmlich zu spürende unanfechtbare Gewissheit?
Es sind Fragen, die beschäftigen. Fragen, die eigentlich niemals ignoriert werden dürften. Allein schon deshalb nicht, weil die Geschichte, aufgefasst als historischer Bogen über mindestens drei Jahrtausende, sie niemals zu widerlegen vermocht hat.
Darum kann ich nicht anders, als mich zu weigern, dem augenscheinlich geistig Vergänglichen mehr Glauben zu schenken als dem offensichtlich Unvergänglichen.