„Geduld und Zähigkeit hilft uns in schlimmen Tagen viel mehr als Kraft und Raserei“, schrieb Jean de LA Fontaine (1621-1695) in seiner Fabel von dem Löwen und der Ratte.
Wir alle täten gut daran, diese Worte zu beherzigen. Die unverkrampfte Zähigkeit und die souveräne Geduld gehören nicht unbedingt zu den Tugenden unserer Zivilisation. Ohne diese Tugenden werden wir die globalen Heimsuchungen, die uns bereits Kopfzerbrechen bereiten, und die zukünftigen, die gleichsam in den Startlöchern parat stehen, nicht meistern.
Mit unserer Zivilisation meine ich diesmal lediglich unseren alten Kontinent.
Ach, Europa! Warum bist du so unzähmbar? Warum verhältst du dich immer wieder wie das schwarze Schaf einer  sonst folgsamen Herde? Weshalb schlüpfst du ungeniert immer wieder aufs Neue in die Rolle des verlorenen Sohnes?  Ach, Europa!
Die jetzige Corona-Pandemie hat globale Dimensionen. Europa ist bloß ein Teil dieser Globalität. Sie (Europa ist eine Sie: In der griechischen Mythologie eine phönizische – also semitische –  Königstochter) hat versucht, der restlichen Welt zu zeigen, dass sie sich diesen mächtigen Herausforderungen als Einheit entgegenstellen, dass sie als Wertegemeinschaft agieren kann. Ist leider schiefgelaufen. Ursula von der Leyen streut gerade Asche auf ihr Haupt.
Ich mag dich trotzdem, Europa!
Dein Wegbegleiter seit Jahrhunderten war und ist das Leid und der politische K(r)ampf: Du hast es nie vermocht, mit einer Stimme zu sprechen, wie auch. Seit drei Jahrzehnten schwadronieren viele, zu viele über europäische Werte. Europa, bitte bleib bei deinen Leisten! Du hast deine ureigenen europäischen Werte der Freiheit, Toleranz und Individualität hundertfach verraten. Die Engländer und Franzosen in ihren Kolonien, der Russe mit seinem Gulag, der Deutsche mit der Krönung des Verrats: Auschwitz. Europa, du aberwitziges Gebilde: hast nie mit einer Stimme sprechen können und die Versuche, in den letzten drei Jahrzehnten dies trotz besseren Wissens zu tun, endeten nahezu regelmäßig im Fiasko.
Und trotzdem bist du, Europa, für viele Menschen, sehr viele Menschen ein Traum, oft ein unerreichbarer. Menschen nehmen den Tod in Kauf, um deine Küsten zu erreichen. In Anbetracht dieser so oft tragischen Vorkommnisse kann ich nur zur gelassenen Besonnenheit raten.
Europa – und dabei denke ich auch an sämtliche Führungsgremien der Europäischen Union – ist nicht so lausig, wie kontinuierlich über sie kolportiert wird. Über dieses Thema ist ein kluger Beitrag in einer der letzten SPIEGEL-Ausgaben erschienen. Er glich einem Weckruf: Redet den alten Kontinent nicht dauernd schlecht! Der Artikel war für mich eine wohltuende Inspirationsquelle.
Natürlich ist es nicht so: Von Europa lernen, heißt siegen lernen! Nein. Aber man kann von Europa viel mehr anderes lernen. Jeder von uns möge einen Augenblick innehalten und sich Europas Gewicht im Zusammenspiel der globalen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen  ins Bewusstsein rufen. Globalisierung ist heute im Wesentlichen „eine Europäisierung“. Die Behauptung stammt nicht aus dem Brüsseler Hauptquartier. Sie stand im Londoner „Economist“!
Wir dürfen nicht vergessen: Briten und Franzosen spielten Weltherrscher im 18. und 19. Jahrhundert. Der USA fiel diese Rolle im gesamten 20. Jahrhundert zu. Die Nordamerikaner setzten gewissermaßen die „Goldstandards“ fest. Für alle auf Erden. Nun fällt diese Rolle – von den meisten unbemerkt und von den restlichen ignoriert – den Europäern zu. Die Macht der Chinesen wächst tatsächlich Tag für Tag. Sie sind aber noch sehr weit davon entfernt, Normen und Maßstäbe zu setzen.  Der oft mühsame und frustrierende Prozess der auf vielen Ebenen der Wirtschaft und Politik stattfindenden Einigung der Völker Europas führt unweigerlich zur Formulierung von Standards. Weil diese Standards  in der Hauptsache gut ausgeklügelt, nachhaltig und zukunftsweisend sind, werden sie recht gerne von anderen Völkern, Organisationen und Regionen weltweit übernommen.
Es war eine scharfsinnige Differenzierung, die der Harvard-Professor Joseph Nye vor Jahren getroffen hat: Das in allen Zeiten menschlicher Geschichte so entscheidende Phänomen der Macht unterteilte er in soft power und hard power. Man kann das Weltgeschehen mit militärischen Mitteln beeinflussen. Also mit „harter Macht“. In diesem unserem Jahrhundert wird es mehr und mehr auf eine softe Machtausübung ankommen. Die heutigen Mächte – so der schon betagte Professor – sollten durch eine schlüssige Strategie soft und hard zu „smart“ verbinden.
Europa bietet alle Voraussetzungen für das Gelingen eines solchen Vorhabens. Sie soll es nur wollen!
Somit plädiere ich dafür, lediglich einen Moment innezuhalten und nicht an die unzähligen Mängel zu denken, die Europa und die EU zu bieten haben. Rufen wir uns ins Bewusstsein, dass Fortschritt historisch meistens im Schneckentempo stattfindet, dass die Gesamtsituation entscheidender ist als Momentaufnahmen, dass das von Europa Erreichte ohne Scheu und ohne Bedenken als beeindruckend bezeichnet werden kann.
Die große Mehrheit jener, die nicht zu Europa gehören, erblicken in diesem Erreichten eben das, was es tatsächlich ist: ein ohne Wenn und Aber tragfähiges Lebensmodell für das 21. Jahrhundert.
Europa, du zerbrechliches Gebilde: Ich mag dich sehr!