Italien ist in der letzten Zeit im Fokus. Im Fokus europäischer Politik. Ähnlich wie vor einigen Jahren Griechenland. Italien ist zum Bad Boy mutiert. Früher lächelte man über Berlusconis Italien. Heute wird Italien, wegen den politischen Hitzköpfen, die jetzt das Sagen haben,  fast schon als ein failed state angesehen.

Nun: ich gönne mir, als ein aufrichtiger Liebhaber dieses Landes, einige Gedanken dazu zu äußern. Es sind Gedanken, die mich seit einiger Zeit bewegen und sie beziehen sich nur bedingt auf die jetzige politische Konstellation.
Italien war, ist und bleibt ein Sehnsuchtsland. Für Engländer und Deutsche sowieso. Mit Italien verbindet jeden aufrichtigen Europäer ein tiefes Herkunftsgefühl: das Bewußtsein, die prägenden Bilder und Begriffe, die Kategorien der Wissenschaft, der Kunst und des geregelten Zusammenlebens von dort zu haben. Und auch das gehört zu Italien: der Mangel an Effizienz und die hohe Kunst der Krisenbewältigung, die oft nicht mehr als Illusionstheater ist.
Selbstredend ist über dieses Land unendlich viel geschrieben worden, unzählige Bücher auch in den letzten Jahrzehnten. Es sind einige Gründe, die mich persönlich immer wieder über den Brenner führen. Eines dieser subjektiv eingefärbten Motive liegt in der einmaligen Vergangenheit dieses Landes. Der italienische Stiefel wurde wie kaum ein anderes europäisches Land viele dutzende Male von teils unbedeutenden teils nachhaltigen  Invasionen heimgesucht.  Somit trifft man spätestens nach jeder Straßenecke auf Historisches. Auf Relikte, die mitunter 2500 Jahre zurückreichen und natürlich auf zahllose Spuren des letzten Jahrtausends.
Dabei ist Italiens Geschichte von Landschaft zu Landschaft grundverschieden. Was die deutschen Gebiete anbelangt unterscheiden sie sich voneinander in ihrer Entstehungsgeschichte,  ihrer Entwicklung und kulturellen Prägung. Die  nicht zu übersehende Verschiedenheit zwischen Ostfriesland und der Oberpfalz wäre so ein klassisches Beispiel. Sie ist aber nahezu lächerlich gegenüber des kontrastvollen Unterschieds zwischen Nord- und Süditalien. Zwischen der Lombardei und Sizilien. Oder Venetien versus Kalabrien. Da sind nun wirklich Welten dazwischen. Diese Regionen haben in Wahrheit nichts Gemeinsames und kaum Verbindendes. Außer dem von oben oktroyierten Nationalstaat, der 1860 zustande kam. Viele Stimmen haben damals vor diesem weitreichenden Schritt gewarnt, und die Stimmen, die die italienische Einigung als Humbug betrachten, sind seit 150 Jahren nie wirklich erloschen. Wohlgemerkt: es handelt sich ausschließlich um „italienische Stimmen“, nicht um fremde.
Im Jahr 1899 schrieb Giustino Fortunato, einer der Klügsten der damaligen politischen Kaste, nicht umsonst habe „ein anderer, und dieser andere war mein Vater!, gesagt, die Einheit Italiens sei eine Sünde gegen die Geschichte und gegen die Geographie.“
Zur gleichen Zeit bemerkte ein Piemontese im Gespräch mit dem französischen Romancier René Bazin in eindrucksvoller Bildhaftigkeit: „Unser Land ist viel zu langgestreckt, Signore. Der Kopf und der Schwanz werden einander nie berühren, aber falls doch, wird der Kopf den Schwanz beißen.“
Wenn man sich etwas intensiver mit italienischer Geschichte beschäftigt , wenn man das Land mit offenen Augen und interessiertem Blick bereist, wird man auch heute immer wieder daran erinnert, dass die vor mehr als 150 Jahren militärisch herbeigeführte Einigung Italiens womöglich tatsächlich eine Sünde gegen die Geschichte und Geographie des Landes war.
Die Einigung war nicht vom Schicksal vorherbestimmt. Sie wurde mit Gewalt herbeigeführt. Der geistige Überbau dieses Unterfangens war die Idee des Risorgimento. Wie sich später relativ schnell herausstellte, war alles sehr idealistisch gedacht und in den Augen vieler Realisten bis zum heutigen Tage eben jene Sünde gegen die Geschichte und Geographie der Apenninischen Halbinsel.
„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…“, dass mich diese Sünde an eine andere Sünde erinnert, die in den letzten Jahren im Begriff ist, begangen zu werden.
Es geht um die hehre europäische Idee. Für sich eine der großartigsten Visionen, die Europa je gedacht hat.
Nur: so, wie dieser an sich wundervolle Traum in den letzten Jahren von der Ökonomie, von einem bürokratischen Moloch und insbesondere von dem geldpolitischen Fetisch her gedacht und teils verwirklicht wird, ist er in meinen Augen ebenfalls eine Sünde. Diesmal gegen die Geschichte und Geographie unseres Kontinents.
Eine Sünde im Großen ähnlich wie die italienische Sünde im Kleinen.