Unsere Nachbarn,  die Grande Nation,  haben nun ihr neues Staatsoberhaupt.  Frankreich ist jetzt in aller Munde. Ein Hauch von kennedytypischer Jugendhaftigkeit wird durch den Élysée-Palast wehen.  Allerdings wird Jackys unnachahmlich-juveniler Charme aus leicht nachvollziehbaren Gründen fehlen.

Die europäische Moderne ist ohne Frankreich und ohne 1789 nicht denkbar.  Die französische Intelligenz ist seit jeher vom Prinzip der Polarität durchdrungen:  die meisten von ihnen drängeln sich nicht in der Mitte,  sie beziehen unmissverständlich eine klar ausgeleuchtete Stellung,  sie suchen „Heil und Erlösung“ in Positionen,  die oft weit abseits der Einheitsbrühe des Mainstreams zu orten sind.

Irgendwie spüren wir alle,  dass  sich die westeuropäische Zivilisation auf dem absteigenden Ast befindet.  Die Dekadenz unseres Kulturkreises,  den französische und deutsche Aufklärer im 18. Jahrhundert so nachhaltig und zukunftsfähig gestaltet und wovon bis zum heutigen Tage sämtliche europäischen Generationen entscheidend profitiert haben,  ist ein Faktum.

Der Franzose hat kein Problem damit,  dieses Faktum unumwunden zu benennen.  Frankreich hat heute Philosophen wie Michel Onfray,  Alain Finkielkraut oder Pascal Bruckner,  es hat Schriftsteller wie Michel Houellebecq,  die es alle mühelos schaffen,  tief in die Textur unserer bereits baufällig-brüchigen Zivilisation einzudringen,  diese Gesellschaft zu entzaubern,  den schrankenlosen Kapitalismus,  den Verlust der Metaphysik,  das völlige Ignorieren des Tanszendentalen,  den Niedergang der Schönheit,  des Stils und des Anstandes in deutlichen aber zugleich würdevollen Worten zu beklagen.

Es ist und war eine stete Herausforderung an die Philosophie der Geschichte,  zu erklären,  warum menschliche Gesellschaften immer wieder mit hanebüchener Leichtigkeit auf Irrwege hereinfallen.  Viele dieser Irrwege führten in sinnlose blutige Gemetzel und grausame Katastrophen.  Andere Irrwege haben kaum Blutspuren hinterlassen aber gewiß immer eine oder mehrere von sozialem und ökonomischem Leid gezeichnete Generationen.

Der Neoliberalismus ist ein Beispiel eines solchen erneuten Irrwegs,  im Moment der letzte in der langen Liste ökonomisch-sozialer und politischer Irrungen.  Der Neoliberalismus ersetzt die alte Narration von gesellschaftlicher Zusammenarbeit und Zusammenhalt durch eine Geschichte,  die von Narzissmus triefenden Individuen handelt.  Es ist durchaus vorstellbar,  dass unter dem Druck der Globalisierung und ihres Adlatus,  dem Neoliberalismus,  die sozialen und die liberalen Werte,  die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit zusammenbrechen könnten.  Es ist vorstellbar,  dass der künftige globale Kapitalismus xenophob,  oligarchisch und nationalistisch sein könnte. Irrsinn?

Allen historischen Irrwegen gemeinsam ist die Tatsache,  dass sie sich die grenzenlosen Möglichkeiten menschlicher Verführ- und Manipulierbarkeit zu Nutze machen.  Kant schrieb von der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen,  der sich seiner Vernunft nicht bedienen kann.  Große Worte eines großen Mannes der von menschlicher Vernunft Großes hielt.  Der Lack bröckelt aber schon lange an diesem naiven Glauben.

Selbst wenn die Vernunft versagt:  die Menschen konnten und können sich niemals herausreden.  Es gibt seit mehr als hundert Menschengenerationen –  für jedermann leicht zugänglich – die Niederschrift eines immer gültigen Wertesystems und somit das Angebot klarer normativen Strukturen und Systeme,  deren Einhaltung die Gefahr der Befolgung von Irrwegen,  zu allen Zeiten von Gauner und Rattenfänger propagiert,  zumindest erheblich erschweren würde.

Nichtsdestotrotz üben Irrwege eine offensichtliche Anziehungskraft auf die Menschen aus.  Das Böse – eine auch von Philosophen und nicht nur von Theologen anerkannte Kategorie –  ist als eindeutiger Urheber sämtlicher Irrungen so alt wie die Menschheit selbst. Goethes Faust lässt grüssen.

Wir Menschen sind leider mit einem Schlüssel-Schloß-Prinzip ausgestattet,  woran das Böse in unendlich mannigfachen Gestalten im Laufe der gesamten menschlichen Geschichte unentwegt andocken konnte.  Es ist einer Verwünschung gleich.

Ist es aber nicht.

Es ist ein dem Mensch-Sein immanenter Zustand und ihm somit nicht entrinnbar.