Ratlosigkeit ist ein Kennzeichen unserer Zeit. Wohin das Auge und das Ohr reichen: überall – im Großen wie im Kleinen – Überforderung und betretene Hilflosigkeit gegenüber dem, was unmittelbar um uns und „draußen“ in der weiten Welt vonstattengehen.

Es ist zum einen das unangenehm dumpfe Gefühl persönlicher Unsicherheit verursacht durch die Verwerfungen der neuen ökonomischen Gegebenheiten. Zu viele Zeitgenossen(innen) – unerwartet viele sind unserem europäischen Wertesystem zugehörig – können mit den rasanten technologischen Entwicklungen nicht mithalten. Der Geist, die Motivation und die Visionen des Silicon Valley und der inzwischen zahlenmäßig massiv angestiegenen Zahl der epigonenhaften Nachahmer auf der ganzen Welt fordern, fördern und begünstigen das kosmopolitische Lebensgefühl in einer noch nie dagewesen Form: Kosmopolitismus mit planetarischen Anspruch. Jene, die diese Lebensart verinnerlicht haben und gewillt waren und sind, sich dieser Lebensform  zu unterwerfen, sind unangefochten die Gewinner des jetzigen historischen Moments.

Der Rest der Welt – die Kommunitaristen – können dagegen dem instabilen Moment und der in ihren Augen  gefährliches Chaos verheißenden Unübersichtlichkeit des planetaren Kosmopolitismus wenig Positives abgewinnen. Sie nehmen eine trotzige Abwehrhaltung ein und flüchten in bekannte Stabilität versprechende Wertesysteme und -muster. So ist das Erwachen nationaler Gefühle und insgesamt des Nationalismus in den aufklärerisch-europäischen Gebieten zu verstehen. Viele dachten, die Geister nationalistischen Denkens wurden im Laufe des vorigen Jahrhundert auf dem alten Kontinent für ewig und immer entsorgt. Dem ist offensichtlich nicht so. Das Wiedererwachen nationalgefärbten Gedankengutes ist nicht die Ursache sondern Symptom wachsender Instabilität. Nicht zufällig gewann der Nationalismus im Zuge der massiven wirtschaftlichen Verwerfungen durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert an Einfluß.

Die europäische Nachkriegsgeneration hat einen Großteil ihres Lebens in beneidenswert stabiler weltpolitischer Situation verbracht. Es war eine Zeit des wahren Segens gemessen an unzählige europäische Tragödien der letzten tausend Jahre.

In diesem Zusammenhang ist es nicht unerheblich, auf ein grundsätzliches Axiom historischen Denkens hinzuweisen, das die Wertung von geschichtlichen und politischen Überlegungen um ein Vielfaches erleichtert. Niemand kann z.B. ernsthaft bestreiten, dass ein Großteil der Weltbevölkerung und insbesondere die Europäer die Jahrzehnte des Kalten Krieges heute, also im nachhinein, weitestgehend als eine Epoche weltpolitischer Stabilität empfinden. Woraus unschwer oben erwähntes Axiom ableitbar wäre, dass nämlich historische Epochen niemals zufriedenstellend beurteilt werden können, solange sie nicht als „abgeschlossen“ gelten. In dem heutigen historischen Augenblick weiss somit niemand, ob die richtigen Antworten auf die komplexen Herausforderungen der jetzigen und künftigen Zeiten von Seiten der Anhänger des Kosmopolitismus oder jener des Kommunitarismus kommen werden.

Wohin man blickt: von überall prasseln aktionistische Vorschläge auf uns nieder. Der Umgang mit den beherrschenden Themen Migration und Flüchtlinge spaltet Familien, Freundschaften und die Gesellschaft insgesamt. In solchen Momenten sind kühle Nüchternheit und historisch-analytisches Denken von Vorteil. Damit wird das Problem nicht gelöst, aber so ein Denken bewahrt vor Übertreibungen. Denn sowohl Befürworter von geschlossenen wie auch jene von offenen Grenzen neigen allzu sehr dazu, die positiven oder negativen Folgen der Migration unaufhörlich zu übertreiben.

Migration ist ein uraltes humanes Phänomen. Migration gibt es seit eh und je und es wird sie immer geben, solange unterschiedliche menschliche Gesellschaftsformen gleichzeitig nebeneinander existieren. Somit ist es klug, Migration als natürliches und unvermeidliches Phänomen der Geschichte anzuerkennen. Das bedeutet allerdings nicht, sich diesem Geschehen schicksalhaft und tatenlos zu unterwerfen. Wir sollen uns nichts vormachen: offene, liberale und vor allem reiche Gesellschaften werden auch in Zukunft eine Sogwirkung ausüben und dementsprechend eine erhebliche Einwanderung erfahren, ob sie wollen oder nicht. Die Migrationsmuster müssen allerdings erkannt, schonungslos offengelegt, klug und interessenkonform gelenkt werden. Die Frage ist bloß: konform wessen Interessen?

Übrigens: um Migrationsbewegungen unter den heutigen historischen Bedingungen einzudämmen, muss der Prozess der wirtschaftlichen Liberalisierung rückgängig gemacht werden. Außerdem müssten die Arbeitsmärkte einer strengen Regulierung unterworfen werden. Das wäre alles machbar, allerdings würde das Wohlstandsniveau eines beträchtlichen Teils unserer Zeitgenossen merklich sinken.

Der, der das wirklich will, „möge den ersten Stein werfen“.

Vor 25 Jahren hat ein Spruch Geschichte geschrieben. Er wird – sinngemäß stets abgewandelt – immer wieder dann verwendet, wenn man etwas auf den Punkt bringen will. Ich versuche mich auch darin:

It`s the Kulturkampf, stupid!

Es geht heute um die Deutungshoheit über künftige soziale und politische  Entwicklungen. Kosmopolitismus oder Kommunitarismus? Wie soll, wie wird unser Europa in der nahen und auch weiten Zukunft aussehen? Wer wird auf dem alten und jetzt auch offensichtlich ermüdeten und sichtlich überforderten  Kontinent ideologisch, ethnisch, religiös das Sagen haben?

Es gab ihn schon mal: den Kulturkampf. In einer anderen Welt und in einem ganz anderen Zusammenhang. Unsere Welt hat eindeutig auch einen, den eigenen natürlich,  man muss nur genau hinsehen und hinhören.