DAS FEUER DES HASSES

Das Feuer des Hasses und des Verderbens lodert wieder im Nahen Osten.
Es ist müßig, die Schuldfrage zu stellen, da sie bekanntlich nicht zu beantworten ist.
An jedem beliebigen Ort der Erde ist die historische Gegenwart das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden geschichtlichen Flusses, welcher, wie jeder Fluss, sich ein einmaliges Bett formt, was wir – die Zeitgenossen – dann in seiner Einmaligkeit vorfinden.
Der mehr als mäandernde geschichtliche Fluss der Ereignisse im Vorderen Orient der letzten drei Jahrtausende hat ein Bett geformt, das – sinnbildlich gesehen – einem riesigen gordischen Knoten gleicht. Bekanntlich ist ein gordischer Knoten nicht entwirrbar.
Der, der den sagenhaften Gordischen Knoten „entflechten“ konnte, hat es mit roher Gewalt getan. Offensichtlich gibt es keine anderen Optionen als die pure Gewalt, derartige Knoten zu entwirren.
Im Laufe der Geschichte obsiegte im Vorderen Orient immer wieder die giftige und mordernde Sprache der Gewalt.
Der Nahe und Mittlere Osten waren und sie sind auch heute im weitesten Sinne Stammesgebiete semitischer Völker. Die Bibel führt die Abstammung Abrahams auf Sem, dem Sohn Noahs, zurück. Somit bezeichnete man in biblischen Zeiten sämtliche Völker in Vorderasien, die sich als Nachkommen Abrahams betrachteten, als „Söhne des Sem“. Die Araber und die Hebräer (Juden) gehören zusammen mit einem Dutzend anderer Völker zu den „Söhnen des Sem“.
Das Miteinander und das Zusammenleben dieser Völker gestaltete sich in den vergangenen 2500 Jahren so, wie man das üblicherweise von Nachbarn gewohnt ist: Mal gewalttätig, mal friedlich. Insbesondere war das arabisch-hebräische Zusammenleben oft besser als gemeinhin angenommen. So waren die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Judentum eindeutig weniger von Gewalt geprägt als das 2000-jährige vergiftete Verhältnis zwischen Christen und Juden.
Es sind die Ereignisse der letzten 120 Jahre, die in Vorderasien immer mehr und mehr das Feuer des entmenschlichten Hasses entfachten. Eine entscheidende Rolle in diesen Jahren nicht endend wollenden Gewaltausbrüche auf beiden Seiten haben die damaligen Groß- und Kolonialmächte England und Frankreich gespielt.
Dieses historische Zeitalter in Vorderasien ist nachweislich ein Musterbeispiel geopolitischer Ränkespiele. In jener Gemengelage, wo Großmächte skrupellos ihre eigenen deutlich definierten Interessen durchsetzten, spielten die betroffenen Gebiete und die jeweiligen Völker, die diese Gebiete bevölkerten, lediglich die Bauernrolle auf dem weltpolitischen Schachbrett.
Die Gewalt von heute ist demnach ohne die Kenntnis der historischen Ereignisse der letzten 120 Jahre nicht mal ansatzweise zu verstehen.
Und das wäre auch nur bruchstückhaftes Verständnis.
Denn es gibt noch etwas, was das Herz dieser Menschen, die „Söhne des Sem“ sind, berührt und ihr Denken bestimmt:
Die Verankerung in ihrem jeweiligen Gottesglauben.
Unbestreitbar: Das Semitentum hat religionsschöpferische Qualitäten.
Sie bestehen in der Fähigkeit, die Summe aller kosmischen Beziehungen zu Ende zu denken und zu erleben, daraus eine übergeordnete, einheitliche Idee abzuleiten, sie zu einer monotheistischen Gottesauffassung zu verdichten und sich den Verpflichtungen, die aus diesem Gottesbegriff erwachsen, mit aller Strenge, bis zum Fanatismus unterzuordnen. Daher bekommen das Nomadentum und ein jedes Nomadenvolk, das die allermeisten semitischen Völker über Jahrhunderte, ja Jahrtausende waren, wenn sie mit solchen geistigen Möglichkeiten ausgestattet werden, eine besondere pathetische Färbung, die ihr Kolorit aus dem Widerspruchsvollen empfängt.
Ein solcher Mensch mit nomadischer Vergangenheit liebt die Freiheit bis zum Exzess und kennt gleichzeitig den unterwürfigen Gehorsam bis zur sklavischen Haltung. Er liebt den Edelmut der Wahrheit über alles und verehrt den Listigen um seiner geistigen Beweglichkeit willen. Er ist duldsam und gleichzeitig intolerant. Er schenkt mit großer Gebärde und sieht in einem Raubzug etwas Heldenhaftes. Er dichtet wunderschöne Verse über Freundschaft und treibt die Blutrache bis zum Ausmerzen ganzer Geschlechter. Er kann über ein Liebeslied in leidenschaftliche Erschütterung geraten und kann mit der brutalsten Grausamkeit morden.
Was wird nun?
Ich kann nicht anders: Ich gebe – sinngemäß – die Überzeugungen des Propheten Jeremia wieder:
„Volk auf Volk, Staat auf Staat wächst, dehnt und bläht sich, breitet sich durch Gewalt und Machtanwendung aus. Und bricht eines Tages zusammen: Vor einem anderen Volk, vor einer anderen Gewaltanwendung. Ihre Existenz beginnt und schließt mit Gewalt und Macht. Sie dauert, bis eine andere Gewalt sie niederschlägt. Das ist ein Vorgang, der in grauenhafter Folge und Eintönigkeit so weitergehen kann und wird. Da Macht sich immer noch übersteigern kann, sei es in Menschenmassen, sei es in Kriegsmitteln, kann auch ein Machtgebilde jeweils von einem anderen, größeren vernichtet werden. Folglich kann die Macht der einzelnen Gemeinschaft nicht dauern.
Wann sie untergeht, ist eine Frage der Zeit.
Dass sie untergeht, ist eine Frage der Gewissheit“.

Jeremia lebte vor fast genau 2600 Jahren.