DER GARSTIGE GRABEN DER GESCHICHTE

Vor einigen Tagen hat ein ehemaliger Waldorfschüler, Hausbesetzer und „taz“-Mitarbeiter folgendes an das Bundesamt für Familie und gesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) geschrieben:
„Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte gerne meine Verweigerung des Kriegsdienstes zurückziehen. Ich fühle mich nicht mehr aus Gewissensgründen daran gehindert, den Dienst an der Waffe zu leisten. Mit freundlichen Grüßen“.
Übrigens: Der Mann ist heute 51 Jahre alt und ein bekannter SPIEGEL-Redakteur. Er begründet sein Schreiben damit, dass die damals ausgesprochene Verweigerung ihren Sinn verloren hat. Er schreibt: „Denn die Welt, in der ich sie erklärt habe, ist untergegangen“. Das unverkrampfte, mutige, förmlich unter die Haut gehende Bekenntnis dieses Mannes – man beachte die oben erwähnte Vergangenheit! – darf man sich getrost auf der Zunge zergehen lassen.
Unser Mann denkt und schreibt stellvertretend für seine Generation. Eine von hehren Idealen beseelte Generation.
Und die jetzt auf die möglichst brutalste Weise aus ihren Träumen gerissen wurde.
Er schreibt weiter: „Es dürfte welthistorisch kein mächtiges Land geben, das sich das Militärische so gründlich abgewöhnt hat, wie die Bundesrepublik Deutschland. Es gibt keine Welt ohne Krieg“.
Und, man staune, es geht in diesem fast schon larmoyanten Ton weiter: „Der ewige Frieden, in dem wir uns wähnten, war eben auch ein bequemes und profitables Geschäftsmodell.(…) Nichts konnte die deutsche Wirtschaft, Politik und Gesellschaft davon abbringen, diesen Traum in den Nuller- und Zehnerjahren weiterzuträumen. Bis zum 24. Februar 2022. Wie schwer es ist anzuerkennen, dass man in einer Illusion gelebt hat, zeigen die Debatten um die Waffenlieferungen an die Ukraine“.
Alles, was sich zurzeit unter den Augen der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit abspielt, ist auf eine ausnehmende Weise von ernüchternder Strahlkraft. Innerhalb von wenigen Monaten wurde der gesamte friedfertige, friedliebende, von einer nicht selten wirklichkeitsfremden Selbstüberschätzung strotzende bundesdeutsche geistige Überbau jener Generationen, die nach 1970 geboren wurden, schonungslos auf dem Müllberg der Geschichte entsorgt. Eine geistige Kehrtwende, die seinesgleichen in der Geschichte sucht und gewiss sich schwer finden lässt. Unser Reporter schreibt tatsächlich: „ES wird aber auch keine Zeitenwende geben, wenn wir unser Verhältnis zum Militärischen nicht grundlegend ändern“.
Ich gestehe freimütig: Ich bin fassungslos! Diese Fassungslosigkeit ist aufgrund meines Alters und der damit einhergehenden Lebenserfahrung allerdings keine, die von einer besserwisserischen und empörten Geisteshaltung geleitet und begleitet wird, sondern von einem aufrichtigen, großzügigen und milden Verständnis für den Gang der Dinge.
Verständnis dafür, dass jede Generation weitestgehend das ererbte Alte ablehnt, um die Herausforderungen des Lebens anders als die Alten und besser als alle Vorfahren zu gestalten. Jede Generation zeugt aus sich heraus eigene unverwechselbare, dem Zeitgeist huldigende Ideale, die als unstrittige und unwiderlegbare Wahrheiten in die Welt gesetzt und des Öfteren mit einem quasireligiösen Nimbus verklärt werden. Man beachte lediglich Teile der jetzigen Jugend, die um die Jahrhundertwende geboren wurde: ihr Denken, ihre Ideale, ihre Aktionen.
Ich bin aber gleichzeitig außer Stande, auch nur eine einzige europäische Generation der letzten 700 Jahre, also grob vom Hochmittelalter her gerechnet, zu benennen (das ist, ich gebe unumwunden zu, provokativ und gewagt), die nicht den Großteil ihrer Ideale, egal welcher Art, mit ins Grab genommen hätte.
Allen – der jetzigen und den künftigen Generationen – stünde es somit gut zu Gesicht, sich zeitlebens und kontinuierlich die uralten Binsenwahrheiten und Jahrtausende akkumulierten Weisheiten ins Bewusstsein zu rufen, dass jede menschliche Erkenntnis eine unbestritten begrenzte Halbwertszeit hat und jede menschliche Anmaßung, den Fluss der Geschichte über einen längeren Zeitraum steuernd beeinflussen zu wollen, in überwiegenden Fällen zum Scheitern verurteilt ist.
Mir fallen in diesem Zusammenhang die Worte Gotthold Ephraim Lessings ein:
„Der garstige Graben der Geschichte“.
Diesem Graben zu entkommen: Das schafft offensichtlich keine Generation.