Die Fussball-WM ist im vollen Gange.
Sie hat holprig begonnen, weil der politische Blickwinkel den fußballerisch-sportlichen Moment ins Abseits befördert hat. Deutschland steht blamiert da. Aber nur fußballerisch.
Ansonsten sind die deutschen Spieler (welt)meisterlich, wenn es darum geht, sich für die Vermittlung politischer Inhalte einspannen zu lassen. Erneut blickte die Welt verblüfft und etwas verstört auf Deutschland. Schon wieder deutsche Alleingänge. Erst recht soll die Welt am deutschen Wesen genesen, das saugt der Deutsche offensichtlich mit der Muttermilch auf. Kleine Anmerkung: Nicht unbedingt „der Deutsche“, sondern zu allen Zeiten die jeweils über die Deutungshoheit herrschende „deutsche Elite“. Man kann nur den Kopf schütteln: Diese generationsübergreifende Anmaßung, stets davon überzeugt zu sein, dass man auf der richtigen Seite der Geschichte steht. In den letzten 150 Jahren waren lediglich die gut vier Jahrzehnte zwischen dem totalen Desaster von 1945 und dem Mauerfall 1989, die relativ frei von deutscher Anmaßung waren.
Sei es drum.
Eigentlich wollte ich den Blick auf ein ganz anderes Phänomen lenken.
Es gibt kaum einen Fußballspieler, der nicht tätowiert ist. Dabei ist unschwer zu erkennen: Es geht nicht um kleinfleckige Kunstwerke. Nein. Bei den allermeisten sind Hals und beide Arme voll tätowiert, also jene Körperteile, die beim Spieler (garantiert fernsehtauglich) gut sichtbar sind. Diese Kunstwerke erfüllen eine Rolle. Sie vermitteln Botschaften.
Und sie beschränken sich natürlich nicht nur auf sportliche Körper.
In den postmodernen Gesellschaften, in denen in sämtlichen Lebensbereichen Künstlichkeit vorherrscht, ist alles, was einen Hauch von Natürlichkeit suggeriert, höchst willkommen. Nur ist die moderne Zeitgenossin und freilich auch der Zeitgenosse jedwelcher Natürlichkeit entfremdet. Der Körper ist der sichtbarste Leidtragende dieser Entfremdung. Sportliche, kosmetische, chirurgische und schließlich digitale Be- und Überarbeitung des individuellen Körpers sind hoch im Kurs.
Nirgendwo also ist diese Entfremdung sichtbarer als an den zahllosen entstellten Körpern: Entstellt durch Kosmetik und insbesondere durch plastische Chirurgie. Diese moderne Körperinszenierungstendenz ist hochgradig aufgesetzt und aus diesem Grunde stets nahe der Lächerlichkeit.
Eine Portion Authentizität versus dieser albernen Künstlichkeit versucht der moderne Mensch durch Tätowierung und Piercing zu erzielen.
Tattoos und Piercing sind als symbolische Attitüden der gedanklichen und religiösen Ursprünglichkeit „wilder“ Völker entsprungen. In unserer europäischen Zivilisation wurden sie dann in früheren Zeiten zum Gedankengut und zur Ausdrucksform sozialer Randgruppen. Diese authentische urwüchsige Kunst- und Schmucktechnik archaischer Völker wirkt auf dem Körper unsportlicher und biederer Wohlstandsbürger nur noch albern, ja grotesk.
Mittels beabsichtigtem Primitivismus soll vordergründig Individualität und Authentizität herbeigezaubert werden.
Tattoos und Piercing waren einst gelebte Zeichen von körperlich-erotischer Potenz, von Kampf und Sieg. Sie waren martialische Zeichen von vergangenen, mannhaften Kriegerkasten. Und sie waren unmissverständlicher Ausdruck kultischer Hervorhebung binärer Geschlechtlichkeit.
Und jetzt und heute?
Sie dienen für degenerierte postmoderne Wohlstandsbürger, für Diverse und Tolerante als unzweifelhaft missglückte Mittel einer obszönen Selbstinszenierung.
Der Versuch, das Persönlichste, was ein Individuum besitzt, nämlich seinen Körper, ganz individuell durch die oben erwähnten Kunst- und Schmucktechniken zu gestalten, endet in einer stumpfsinnigen Normierung.
Und eben diese nivellierende Normierung führt letztendlich zu dem Verlust jener einmaligen Identität, die es attestieren und beglaubigen soll.