An der Gemeinde am Fuße der deutschen Alpen ist einiges von alleinstehender Besonderheit.
So ist zum Beispiel das Gemeindewappen etwas Besonderes:
In Blau ein oben und unten durchgehendes goldenes Passionskreuz mit abhängendem silbernen Tuch, beiderseits eine wachsende silberne Schwurhand.
Der weltweite Ruf der Gemeinde ist gleichfalls von einer besonderen Güte.
Oberammergau.
Die Passionsspiele.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Oder doch?
Die Frage aller Fragen bezüglich Oberammergau muss erlaubt sein:
Was bewegt hunderttausende Zuschauer aus aller Welt, den Passionsspielen, die die letzten irdischen Tage im Leben Jesu darstellen, beizuwohnen?
Darüber ließe sich trefflich streiten. Es dürfte wohl keinen Streit darüber geben, dass Jesus von Nazaret zu den faszinierendsten Gestalten der Menschheitsgeschichte zählt. Die Geschichte seines kurzen Lebens ist beeindruckend, während seine Gedanken und Lehren zeitlos und unverwüstlich sind.
Die Passionsspiele sind Menschenwerk, die Ausgestaltung und insbesondere die Aussagen der Aufführungen hängen weitestgehend vom Zeitgeist und von dem handwerklichen Verständnis der jeweiligen Regisseure ab.
Dass der Zeitgeist hierbei eine entscheidende Rolle spielt, ist an den Aufführungen der letzten Monate bestens zu verfolgen.
Der Kreuzestod Jesu ist in diesem Jahr eindeutig der theatralische Höhepunkt der Passionspiele.
Anschließend und abschließend folgen zwei sehr kurz gehaltene Szenen:
Drei Frauen entdecken ein leeres Grab, wonach in der allerletzten Szene die Botschaft des leeren Grabes unter dem Volk verbreitet wird. Damit wird jedermann klar, was die Hauptaussage der Aufführungen ist: Einen jungen, mutigen Mann darzustellen, der mit einer neuen Lehre, einer neuen Weltsicht und einem unnachahmlichen Lebenswandel Jünger um sich schart. Jesus ruft zur radikalen Umkehr auf und spricht – in einer von Gewalt und Unterdrückung gezeichneten Welt – von einem uneingeschränkten Gebot der Nächstenliebe, das alle Menschen umfassen soll. Wirklich alle.
Der Ausgang der Geschichte ist hinlänglich bekannt: Jesus gilt sowohl in den Augen der Elite seines eigenen Volkes als auch der römischen Besatzer als ein gefährlicher Unruhestifter, der unverzüglich beseitigt werden muss.
Was die Aufführungen tunlichst meiden, ist die andere, viel bedeutsamere Dimension des Wirkens des notorischen Unruhestifters aus Galiläa.
Jesu Leben und seine Lehren sind unmissverständliche Zeugnisse vom Wirken Gottes in der Welt.
Der religiöse Provokateur ist nicht irgendjemand, seine Kreuzigung ist in allerersten Linie ein Opfer, das Gott für die Menschen bringt. Jesu`neue Lehre und vor allem sein Kreuzestod alleine wären kein Grund, worum ungezählte Menschengenerationen sein Leben und Sterben bis heute nicht vergessen können und wollen. Erst dann wird er zu dem Jesus, an den Menschen seit 2000 Jahren glauben und – wichtig! – dem die Oberammergauer vor 400 Jahren versprochen haben, seine Leidensgeschichte immer wieder zu spielen, wenn er als „Fleischwerdung des Wortes Gottes“ von seinem „Abba“ von den Toten auferweckt wird.
Natürlich ist das alles für unsere säkulare Gegenwart, der die Dimension des unverfälschten Glaubens abhandengekommen ist, nicht mehr als ein ungläubiges Märchen. Es ist aber die unausrottbare und ungestillte Sehnsucht nach dem Ewigen, die die Menschen in ihrem Herzen tragen, und die den Erfolg der Oberammergauer Spiele seit Jahrhunderten erklärt. Die Sehnsucht nach Verankerung im Göttlichen kann nicht ausgelöscht werden.
Dieser Sehnsucht tragen die diesjährigen Aufführungen wenig Rechnung. Sie zeigen folgerichtig, wie fern Gott, von Jesus liebevoll „Abba“ genannt, unserer Gegenwart ist. Dabei verströmt ganz Oberammergau und sein Festspielhaus ein tiefes, sehnsüchtiges Eingeständnis, dass es ohne Glauben kein sinnvolles Leben geben kann.
Nichtsdestotrotz verweigert Oberammergau Anno 2022 den Sprung über die Grenzen der Vernunft. Dem göttlichen Jesus verweigern die Oberammergauer den Bühnenauftritt.
Jesu Aufforderungen zu radikalem Umdenken und Umkehr – es ist eher der menschliche Jesus, der hier agiert – sind gleichermaßen Aufforderungen, Hass und Gegenhass, Gewalt und Gegengewalt zu beenden.
Wie aktuell diese Aufforderungen angesichts der politischen Großwetterlage sind, dürfte keinem entgehen! Allerdings ist hierzu augenzwinkernd anzumerken, dass Jesus nirgendwo zu erkennen gegeben hat, dass Frieden politisch oder gar militärisch organisierbar wäre.
Menschliche Vernunft alleine wird somit der Forderung zu einer radikalen Umkehr nie Genüge tun. Der Sprung über die Grenzen menschlicher Vernunft stünde Oberammergau und uns allen sehr gut.
Wir haben nichts zu verlieren, dafür aber, wenn nicht alles, so doch Erhebliches zu gewinnen.
Es gibt unzählige Lehren, die die Menschheitsgeschichte parat hält. Eine der tiefsinnigsten ist folgende:
Es gab und gibt zwei gefährliche Abwege im Leben jedes Individuums und eines jeden kleinen oder großen Kollektivs:
Die Vernunft schlechthin zu leugnen und außer der Vernunft nichts anzuerkennen.