Geistige Entropie
Vor rund 210 Jahren hätte man ihm in den engen Gassen Nürnbergs begegnen können.
Eine eher unscheinbare Erscheinung: ein Stuttgarter Schwabe nach Franken verschlagen.
Der Rektor des ehrwürdigen Melanchthon-Gymnasiums zu Nürnberg: Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
Neben Goethe wohl der letzte deutsche Universalgelehrte.
Es ist uns Menschen eigen, zu versuchen, aus den historischen Geschehnissen den Sinn zu extrahieren. Nun, in meinen – zugegeben, nicht wirklich maßgeblichen – Bemühungen eine sinngebende Ordnung in der Komplexität der Gegenwartsgeschichte zu finden, bin ich auf einige von Hegels geschichtsphilosophischen Überzeugungen gestoßen. Ihn in diesem Zusammenhang zu finden, war eigentlich keine besondere Leistung: Er ist wieder präsent, schließlich jährt sich sein Todestag in diesem Jahr zum hundertneunzigsten Mal.
Ein Phänomen heutiger Geisteshaltung macht sich in unserer westlichen Welt breit. Vergangene Ideen und Überzeugungen, Beweggründe und Standpunkte werden von der hohen moralischen Warte des jetzt vorherrschenden Zeitgeistes einer bösartig-üblen und unheilvollen Kritik unterzogen. Es erübrigt sich, Beispiele zu nennen.
Der Mainstream-Meinungskirche ist es gelungen, aus der Wirklichkeit des Hier und Heute hervorgegangenen Zeitgeistes frühere Einstellungen und Wertvorstellungen nicht nur abzuwerten, sondern sie sogar zu kriminalisieren.
Es sind genau diese prägenden Fakten des heutigen geistigen Geschehens, die Hegels Geschichtsphilosophie auf den Plan rufen.
Jede Gesellschaft mitsamt ihrer Ideale, der jeweilige Staat und seine Gesetze, alle Moral, alle Vorstellungen und sämtliche Werte sind immer historisch zu betrachten. Somit unterliegt jede Gesellschaft und jede Kultur einer nur ihr eigenen intrinsischen Logik. Diese Logik darf man, kann man, soll man unter die Lupe nehmen, es spricht nichts dagegen, ja, es ist sogar geboten, diese Logik historisch-analytisch zu sezieren. Man seziert aber eine Leiche mit der entsprechenden Ehrfurcht vor der Würde des unter dem Seziermesser Liegenden.
Da es objektive, insbesondere zeitlose Werte nicht wirklich gibt, ist es ein Ausdruck von Gedankenlosigkeit, diese Logik im Nachhinein, Jahrzehnte, gar Jahrhunderte später, zu denunzieren. Natürlich gelten derlei Überlegungen nicht Zeiten entmenschten Verbrechens, Zeiten, deren Schuld nie verjähren darf.
Weltgeschichte ist im hegelianischen Sinne ein nicht wirklich planbarer Reigen auf der weiten Weltbühne, ein mit unerbittlicher Logik sich entfaltender Prozess, wo alle Akteure, selbst die überragenden Gestalten des Weltgeschehens, nichts anderes als Marionetten waren und sind. Die heutige globale Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen sind hierfür das Paradebeispiel schlechthin.
Es gibt gute Gründe, Hegels geschichts- und kulturtheoretischen Lehren zum Mindesten in Erinnerung zu rufen.
Der Zeitgeist, der uns umweht, erhebt das subjektive Gefühl und die subjektive Identität zum Götzen, und erwartet von uns allen, diesem Götzen eine quasireligiöse Verehrung entgegenzubringen. Unsere Welt zerfällt zusehends in eine lose Ansammlung von unzähligen mehr oder weniger belangvollen Blasen und Narrativen.
Das GANZE im Sinne Hegels, also der „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, die unaufhaltsame Entfaltung der Vernunft, die Versöhnung von Individuum und Allgemeinem, von Freiheit und Notwendigkeit gerät zusehends ins Hintertreffen. Was nicht sonder verwunderlich ist: Es ist doch offensichtlich, dass die Hegelsche Geschichtsphilosophie die säkularisierte Variante der christlichen Heilslehre darstellt. Und es gibt noch etwas, was zu Hegel gesagt werden muss: Er hat kaum was Neues gedacht, aber alles schon Gedachte und im Weltmaßstab Geschehene auf eine unnachahmliche Weise neu sortiert und mit einer in sich schlüssigen Logik neu arrangiert. Für den Optimisten Hegel stand fest, dass die aufgeklärte liberale Vernunft sich in der Geschichte selbst realisieren wird. Er würde den Zeitgeist und den Mainstream, die jede noch so aberrante Art subjektiven Gefühls zum Maßstab der Wirklichkeit erheben, mit Verachtung quittieren.
Mit bekümmerter Miene würde er sich sodann Sorgen machen um den Ausgang der Geschichte: Nicht die absolute Vernunft stünde am Ende der Weltgeschichte, sondern ein Trümmerhaufen des Geistes.
Die geistige Entropie.