Es ist zum Schmunzeln.

„Weltmacht wider Willen“ titelt „Der Spiegel“ seinen Leitartikel Ende Januar 2018.  Ein Land mit seinem „kolossalen Gewicht“  hat doch keine Wahl, Macht (in der Welt – meine Anmerkung!) auszuüben oder nicht.  Dieses Land-so das Hamburger Blatt-zählt zu den Motoren der globalen Ökonomie und zu den tragenden Säulen der westlichen Welt.

Nun: welches Land meint wohl „Der Spiegel“?

Nein, aber wirklich nicht!  Doch! Doch!  Deutschland ist gemeint!  Der eher linkslastige „Spiegel“ bescheinigt unserem Land den Status einer Weltmacht!  Und nun die Kehrseite der Medaille, ebenfalls laut „Spiegel“: Deutschland findet partout nicht zu einer Außenpolitik, die seinem „kolossalen Gewicht“ entspricht.

Chapeau, „Spiegel“! Der Leitartikel folgt dem Vermächtnis Rudolf Augsteins, dem legendären Übervater des Blattes, dessen journalistisches Berufsethos er selber in drei Worte zusammengefasst hat: „Sagen, was ist.“

Tatsache ist: Deutschland kann keine Außenpolitik. Ich darf an dieser Stelle den Leser auf einen im März 2017  hier bei Acta Septimana erschienenen Artikel zu diesem Thema verweisen. Die komplexe Vielschichtigkeit des Themas lässt nur geistige Annäherungsversuche zu. Warum Deutschland keine Außenpolitik kann, entzieht sich einer vollständigen und endgültigen Beurteilung. In jenem Märzartikel habe ich zaghafte Versuche der Annäherung gewagt. Die folgenden Zeilen wollen als Fortsetzung verstanden werden.

Aus nachvollziehbaren historischen Gründen als Reaktion auf die unsäglichen Jahre des Nationalsozialismus und dem darauffolgenden politisch-moralischen Mief der Nachkriegsjahre hat die 68er Bewegung in Westdeutschland zunächst sämtliche gesellschaftlichen Normen und Werte mit Furor in Frage gestellt, um dann unaufhaltsam in den letzten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts die kulturelle und spirituelle Deutungshoheit zuerst in der BRD, dann, nach dem Mauerfall, im vereinten Deutschland zu erobern. Das Weltbild und die Werte, die diese Generation vertreten, will ich hier nicht breittreten. Sie sind weitestgehend durchdrungen vom Glauben in das Gute und das Edle im Menschen, mit ausgeprägten z.T. gut nachvollziehbaren antikapitalistischen, letztendlich auch offenkundig utopischen Tendenzen.

Für mich – ein unter völlig anderen gesellschaftlichen Realitäten sozialisierter Deutscher – ist diese kurz vor und kurz nach Kriegsende 1945 geborene westdeutsche Generation, von denen jetzt nahezu alle im Rentenalter sind, aber immer noch hierzulande eine entscheidende Rolle als Meinungsmacher innehaben, eine wider Willen und somit schuldlos „traumatisierte“ Generation. Traumata können vielfache Ursachen haben. Und sie sind deshalb von unterschiedlichen Ausprägungsgraden.  Es gibt z.B. ein-bei Europäern eher unbekanntes-Post Traumatic Slave Syndrom.

Und für mich gibt es zweifelsohne ein Posttraumatisches-NS-Syndrom. Betroffen sind jene, die (geistig)  traumatisiert wurden von der Geschichte des eigenen Volkes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von der Schuld, welche die eigene Nation, die eigenen Eltern, ihr Vaterland auf sich geladen haben. Es war den Eltern und Großeltern der 68er nicht möglich angesichts der immensen Schuld, die sie in gut drei Jahrzehnten auf sich geladen haben, sich vor der Geschichte zu dieser Schuld zu bekennen oder sie gar offensiv und mit reinigender Wirkung zu verarbeiten. Über das Geschehene, über das Schreckliche breiteten sie hilflos den Mantel der Verschwiegenheit aus. Das Erlebte machte sie stumm. Sprachlos.

Diese Sprachlosigkeit, dieses Unvermögen, sich der Schuld zu stellen, wurde von den eigenen Kindern dahingehend gedeutet, dass die Eltern Unverbesserliche waren, deren Weltanschauungen und Werte man beflissen und minuziös auslöschen mußte. Die 68er Generation hat die Schuldfrage gelöst, indem sie jene bitterlich immense Bürde auf sich genommen hat, wozu ihre von höllischen Geschehnissen  traumatisierten Eltern nicht mehr imstande waren.

Sich schuldlos schuldig zu erklären traumatisiert.

Um mit dieser unverschuldeten Schuld leben zu können, musste nahezu alles, was an die elterliche Welt erinnerte, mit Füssen getreten und ein für alle Male ausgemerzt werden. In solchen historischen Momenten beginnt man zunächst damit, Identitäten auszulöschen. So sind Parolen wie „Nie wieder Deutschland“ oder „Deutschland verrecke“ entstanden. So ist es auch zu verstehen, dass heute viele „Traumatisierte“ eine intimere Nähe zu Hunderttausenden von einer frauenverachtenden, antisemitischen Religion geprägten jungen Männern empfinden, als zu anderen Europäern im Westen und insbesondere im Osten des Kontinents, die nicht so denken wie sie.

Vor ca. 20 Jahren hat ein gewisser Johannes Willms in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben: das Verlangen nach Identität sei die „Lebenslüge von Zombies“. Grotesker geht es nicht. Das ist, was ich unter traumatisiert verstehe. Und schuldlos noch dazu.

Nun wird im selbigen Leitartikel darüber lamentiert, dass wir so einen wie Macron nicht haben. Solange die Traumatisierten das Sagen haben, werden wir in Deutschland keine anderen Politiker als uncharismatische haben. Jene, die in Nachkriegsdeutschland einen Hauch von Charisma aufweisen konnten, sind die berühmten Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Einer wie Macron mit visionärem Willen, ausgestattet mit körperlichen und geistigen Eigenschaften, die Menschen zu begeistern imstande sind,  mit einem nicht alltäglichen Vermögen, ein tiefsinniges Gespräch über Hegels Philosophie zu führen, hat in unserem Land unter den Bedingungen des kulturellen und politischen Diktats der Traumatisierten  keine Chance. Jemand, der – im positiven Sinne des Wortes –  elitär aus der Reihe tanzt, ein Charismatiker also, dem per definitionem visionäres Denken eigen ist, wäre für unsere „Elite“ gleichbedeutend mit einem Volksverführer, einem höchst gefährlichen Blender, dem der (politische) Kopf rechtzeitig eingeschlagen gehört.

Deutschland wird in den letzten Jahren ebenfalls von Traumatisierten – allerdings handelt es sich um ein völlig anderes Trauma – gezielt als Zufluchtsstätte ausgesucht. In den Augen der einheimisch Traumatisierten dürfen, ja sollen diese von weit her Gekommenen ihre Herkunft, ihre Identität, ihren Glauben, ja selbst ihre Scharia bewahren und erhalten. Die Identität der Anderen muss der Deutsche  schätzen und in Ehren halten.  Die eigene Identität, jene, die ihm in den letzten Jahrzehnten noch geblieben ist, soll ihm versagt bleiben.  Identitätsbehauptung versus Identitätsverleugnung. Kann das gut gehen?

Es ist schier unmöglich, eigene Interessen machtvoll auf dem internationalen Parkett zu vertreten, wenn man mit sich selber nicht im Reinen ist.

Erst den Enkeln der 68er werden die historischen Chancen zufallen – vorausgesetzt es geschehen weitere, reinigende historische Prozesse – sich einer neuen, politisch gesunden und traumafreien, hoffentlich dann deutsch-europäischen Identitätsbehauptung zu erfreuen.