Es ist Winter.

Und:  es sind mitunter bleierne Tage dabei. Tage, die mich gelegentlich an ein Gedicht mit dem Titel „Blei“ erinnern. Der Autor hieß George Bacovia, einer der Ausnahmetalente der rumänischen Literatur.

„Dormeau adanc sicriele de plumb….(Im Tiefschlaf die bleiernen Särge…). Dieser erste Vers suggeriert bereits bleierne Unbeweglichkeit, mehr noch:  starre, gefühllose, durch Mark und Bein dringende Kälte.

Bleiern ist seit einigen Wochen auch der Gesichtsausdruck von Angela Merkel. Es geht ihr nicht gut, das merkt man ihr  deutlich an. Ihre früheren Gesichtszüge widerspiegelten das, was sie glaubwürdig am besten konnte:  alles unter Kontrolle haben. Die unmißverständliche Hoheit über sämtliche innen- und außenpolitischen Schlaglöcher. Die politisch-nüchterne Unaufgeregtheit selbst in den brenzlichsten Situationen hat sie nahezu perfekt beherrscht und vorgelebt.

Seit einigen Monaten ist alles anders. Wie so oft in der Geschichte begann auch bei ihr die Erosion der Macht und  der damit verbundene Kontrollverlust schleichend. Und wie jede Erosion –  ob im Physikalischen, Sozialen, Wirtschaftlichen und Politischen –  ist sie ein langsamer und unauffälliger Prozeß. Gleichsam nicht der Rede wert.

Wenn dann aber der Erosionsprozeß bewußt wird,  ist die Prekarität der Lage so fortgeschritten, dass es außer einem radikalen Schnitt mit dem Erodierten keinen anderen sinnvollen Weg gibt.

Soweit ist es nun auch mit unserer Kanzlerin gekommen und mit ihrem Denksystem, das man zu Recht als Merkelianismus bezeichnen darf.  Die Politikwissenschaften werden – was den Merkelianismus anbelangt – künftig ein weiteres und durchaus weites wissenschaftliches Erkundungsfeld „beackern“ können. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden hoffentlich neueren Generationen in politischer Verantwortung weiterhelfen,  soweit diese sich lernfähig und -begierig erweisen werden.

Womit Frau Merkel uns entzückt hat, war die unaufgeregte Solidität ihres Denkens und des Auftretens:  kein Schein, sondern Sein. Puristisch- protestantische Askese in Reinform.  Pragmatismus der naturwissenschaftlichen Prägung. In der Finanzkrise vor knapp 10 Jahren hat sie gezeigt, wozu sie imstande ist:  Krisen zu bewältigen, die nicht unmittelbar das Seelenleben der Menschen, insbesondere jenes des eigenen Volkes, touchieren. Es ging darum, Deutschland und Europa einen Stabilitätsanker zu verpassen in einer Zeit, wo nicht wenige bereits Untergangsstimmungen frönten. Diese Krise hat sie in lobenswerter Manier gemeistert. Zwar war und ist der Preis relativ hoch:  der für die Finanzwelt unbedeutende kleine Sparer bezahlt die Zeche – aber es hätte viel schlimmer kommen können.

Frau Merkel wollte das Unbedingte um jeden Preis:  Stabilität nach allen Seiten. In allen Dimensionen.

Sie hat zu lange regiert, zu lange hat sie in Deutschland und in Europa das Sagen gehabt, als dass sie von dem tragischen Moment der Hybris, der jedem menschlichen Schicksal innewohnt, hätte verschont bleiben können. Durch einen einzigen, offenbar einsam gefassten Beschluß in jener Spätsommernacht des Jahres 2015 hat sie in der Zehntelsekunde eines Wimpernschlages – damals natürlich ohne es zu ahnen – ihrem politischen Ideal,  alles der Stabilität unterzuordnen,  irreparablen Schaden zugefügt. Dabei lag sie mit ihrem Beschluß alles andere denn falsch. Und das weder politisch noch moralisch. Im Gegenteil:  ihre Anweisung, die Grenzen für die Flüchtlinge sofort zu öffnen, war eine der großartigsten Taten eines Politikers der letzten Jahrzehnte europäischer Geschichte.

Aber es gibt in der Geschichte höhere, für Menschen unbegreifliche Mächte, die den Gang eben dieser Geschichte verstörend beeinflussen. So gibt es menschliche Fehlgriffe und Verfehlungen definitiv ohne den  klassischen Zusammenhang mit einer mühelos auszumachenden subjektiven Schuld.  Wunderbar herausgearbeitet in den attischen Tragödien der unerreichten griechischen Meister ( vor 2400 Jahren!).

Der Lauf der Geschichte lockt Menschen in die Hybrisfalle:  auf der Suche nach der gerechten Lösung und dem moralisch einwandfreien Weg gerät der Mensch in Widerspruch mit Mächten, die sich seiner Kontrolle entziehen. In solchen Augenblicken verführt die ihm innewohnende Hybris den Menschen in eine so nie gewollte Vermessenheit und Selbstüberhebung.  Karl Popper schrieb dazu Folgendes:  „Die Hybris, die uns versuchen läßt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln“.

Natürlich gelten Poppers Worte nicht Angela Merkel.

Aber die deutsche Kanzlerin wurde von der Geschichte definitiv auch in diese Falle gelockt. Die Nachwelt wird sich nicht so sehr um ihre einsam gefällte Entscheidung kümmern, sondern sich eher für die Monate und Jahre interessieren, die diesem Beschluß gefolgt sind.

Dem staatlichen Kontrollverlust. Dem Verlust dessen was Merkels politische DNA immer schon ausgemacht hat: unaufgeregt für innere und äußere Stabilität zu sorgen.

Sie weiß, dass sie hier – trotz der Tatsache, dass sie das Gute und das Moralische fest im Auge hatte – ihren kapitalen politischen Fehler begangen hat.

Sie weiß, dass sie als politisch Verantwortliche diese „ihre“ Stabilität nie wieder wird herstellen können, auch ist sie sich dessen wohl bewußt, dass sie allein für das Aufkommen der AFD und für das Erstarken des rechten Randes der Gesellschaft verantwortlich ist.  Sie weiß, dass sie ihre CDU gespalten, dass sie eigentlich das ganze Land gespalten hat.

Die vielen vergangenen Monate seit dem Beginn des Kontrollverlustes zeigen auch sehr deutlich, auf welche Art sie um Schadensbegrenzung bemüht war. Den berechtigten Sorgen des eigenen Volkes begegnete sie mit der ihr eigenen leidenschaftslos-frostigen Unaufgeregtheit. Jenem untrüglichen Kompass ihres langjährigen politischen Erfolges. Dieses Entrückt-Sein vom Puls der Zeit war aber nicht mehr zeitgerecht. Die Bürger –  letztlich zu viele Bürger – haben ihre bleierne Miene, die das „Weiter So“ veranschaulichen sollte, nicht mehr begriffen. Nur keine Gefühlswallungen. Nur nicht sich dem eigenen Volk stellen und eine alle berührende, visionäre Rede halten!

Sie weiss es sehr wohl:  ihren Versuch, sich in diesen geschichtsträchtigen Zeiten schweigend und unberührt-kalt durchzuwurschteln, wird ihr die Geschichte nicht verzeihen.

Somit hat es Angela Merkel  auch nicht geschafft.

Den eleganten Abgang aus der Geschichte.

Sie wird zur Zeit auffällig oft von den Kabarettisten der Nation vereinnahmt. Seit Monaten kommt kein Kabarettist mehr an der Kanzlerin vorbei. Kabarett ist ein ziemlich sensibler Pulsometer der Volksseele. Und somit ein untrügliches Frühwarnsystem für Würdenträger insbesondere für politische.

Angela Merkel hat den vorbildlichen und distinguierten Ausstieg seit langem verpasst.  Ähnlich wie ihr politischer Ziehvater,  der Mephistos Warnung aus Goethes Faust auch nicht ernst genommen hat:

„Du glaubst zu schieben und wirst geschoben.“

Der Kanzler der Einheit wurde damals von einer relativ unbekannten protestantischen Pastorentochter (weg) geschoben.

Warum hast du in der Schule nicht aufgepasst Angela, als Goethes Faust besprochen wurde?