In der letzten Zeit wird auffällig oft der Name Napoleon Bonaparte erwähnt.
Es hat mit E. Macron zu tun. Natürlich kann man Napoleon und Macron nicht ernsthaft miteinander vergleichen. Es drängen sich aber immer wieder Erinnerungen auf an den französischen Kaiser, sobald man Macrons Statur, seine Ehe mit einer deutlich reiferen Frau und seine Tatkraft, gelegentlich visionär veredelt, in Betracht zieht. Napoleons Visionen waren Ausdruck zeitgemäßen Denkens und zeitspezifischer Ideale. Sein Denken war unbestritten global, das politische und insbesondere militärische Instrumentarium zur Erlangung seiner Ziele war aus heutiger Sicht weniger lobenswert. Der Denker der (europäischen) Globalisierung Anno 1804 (Kaiserkrönung) war offensichtlich ein ausgewiesener Geopolitiker, dessen politische und militärische Überlegungen keine Grenzen kannten.
Das historische Denken in großen Zusammenhängen war und ist nicht jedermanns Sache. Es läßt deshalb tief blicken, wenn man heute Folgendes aus Napoleons Feder liest:
„China ist ein schlafender Riese. Lasst ihn schlafen. Denn wenn er aufwacht, wird er die Welt bewegen.“
Wie wahr. Woher diese fast schon geschichtsphilosophische Intuition des Korsen? Es standen den Europäern damals gewiss keine exhaustiven Informationen und kein gesichertes Wissen über China bereit.
Zum Unterschied von heute. Alles liegt auf der Hand für alle denkbar leicht abrufbar und gut sichtbar. China ist seit Jahren auf dem Weg in jenes Zeitalter, wo es nicht weniger, als die zentrale Rolle mit globalem Anspruch reklamiert. Mit Reklamieren verbindet man allerdings Getöse, unwirsches Auftreten, rechthaberisches Getue. Nichts davon bei den Chinesen. Sie produzieren keine weltpolitischen Schlagzeilen. Sie bedienen nicht die auf peinliche Schlagzeilen erpichte euro-amerikanische Presse und Öffentlichkeit.
Die westliche Welt labt sich im Sud skandalträchtiger Ereignisse. Der von allen guten Geistern verlassene, in sämtlichen Belangen überforderte Herr aus dem Weissen Haus ist das gefundene Fressen für die papierene und digitale Pressewelt des Westens. Europa verheddert sich in einer geistigen Welt voller Possen, wo Begriffe wie Nationalismus, Regionalismus, Provinzialismus und weitere Ismen die entscheidenden Debatten beherrschen. Darüber hinaus muß Europa jetzt und in einer nicht überschaubaren Zukunft mit Migrationswellen aus Afrika und Asien fertig werden, mit einem historischen Phänomen also, das (west!)europäische Völker seit 900 Jahren nicht mehr erlebt haben. Europa wird genötigt sein, klein zu denken und in historischen Niederungen beengt zu handeln.
Es deutet alles darauf hin, dass die Zukunftsmusik im Fernen Osten und im Pazifikraum gespielt wird.
Geschichtsträchtige Zeiten waren mindestens drei Jahrtausende dem Mittelmeerraum vorbehalten. Darauf folgte einige Jahrhunderte die globale Hoheit der Atlantik-Anrainer. Eine erneute Verlagerung des politischen Weltmittelpunktes, diesmal in den Pazifikraum, wäre in der Menschheitsgeschichte somit kein überraschender historischer Moment. Die Art und die rasante Geschwindigkeit der Rückkehr Chinas in die Weltpolitik ist aber nahezu einmalig in der Menschheitsgeschichte.
China will den Westpazifik und es wird sich diesen geographischen Raum unbestritten als strategischen Vorhof sichern. Dieses Land missioniert aber nicht politisch. Das unterscheidet es – zumindest bislang – von den anderen mächtigen Akteuren der Weltgeschichte: das katholische Spanien vor einem halben Jahrtausend, die kommunistische Sowjetunion und die von der res publica durchdrungenen Vereinigten Staaten. China setzt lediglich auf seine wirtschaftliche Macht. Und die läßt sich sehen.
China setzt auf den Einkauf. Auf den strategischen Einkauf. Die „neue Seidenstraße“ ist ein außen- und geopolitisches Projekt, das in der Geschichte der Zivilisationen seinesgleichen sucht. Das Projekt ist ohnehin die einzig existierende seriöse geopolitische Strategie unserer Zeit. Die Spannweite dieses wirtschaftspolitischen Vorhabens reicht von der Küste des Südchinesischen Meeres bis weit westwärts nach Weißrussland und Polen.
Die Chinesen setzen außerdem über alle Maßen auf Zukunfttechnologie: sie wollen KI-Weltmarktführer sein, jene Informatiksparte, die es in sich hat. Soweit mir bekannt, verhalten sich künstliche Intelligenz und Datenschutz westeuropäischen Standards zueinander wie Feuer und Wasser. Das Trainieren von KI-Algorithmen verträgt keinen Datenschutz. Wäre damit Europa in der technologischen Sackgasse?
Die Chinesen haben zur Zeit dem Westen gegenüber ein Ass im Ärmel, das in der Menschheitsgeschichte immer ausschlaggebend war. Dieses Land bietet seinem Volk die berechtigte Hoffnung und die Zuversicht, dass das Morgen besser ist als das Heute. Chinas wirtschaftspolitisches Modell beeindruckt die Welt, weil eine ideologisch und historisch verrufene Partei das Riesenreich fest, entschlossen und erfolgreich im Griff hat, weil die gesamte Gesellschaft jugendhaft-spritzig, fleissig und erfolgsgierig wirkt. Sie blicken zurück auf mehrere tausend Jahre alte Geschichte. Entsprechend kann die chinesische Volksseele gar nicht anders, als denken in ewig langen Zeiträumen mit dem unvermeidlich dazugehörigen Auf und Ab. Jetzt ist eindeutig mal wieder das Auf an der Tagesordnung.
Die wirtschaftliche Macht auf Erden wollen sie erobern. Ob sie auch eine kulturelle bzw. militärische Hegemonie erstreben, ist eher unwahrscheinlich. Es wäre nicht im Geiste des Konfuzianismus und Taoismus, die dieses ferne Reich noch immer geistig entscheidend prägen und sie auch in ihre neue Zukunft begleiten.
Dem Westen wird jetzt augenscheinlich, dass er einem Irrtum aufgesessen ist: jenem Hirngespinst, dass unser wirtschaftliches System und das dazugehörige politische Konstrukt der Demokratie der Endpunkt des historischen Werdegangs der Menschheit bedeuten. Bei dem kleinen Korsen mit dem bemerkenswerten geopolitischen Gespür kam bekanntlich der Hochmut vor dem Fall. Wie wird es unserer Zivilisation ergehen?
Dem Westen bleibt lediglich die Hoffnung, dass Chinas strategisches Denken ein im Wesentlichen friedvolles sein wird.