„Die Verse durchwandern in einem einzigen Bild- und Sprachklang gewordenen Gedanken den ganzen Kosmos“.
Dieser Satz stammt von einer bekannten Goethe-Kennerin. Ich persönlich deute den Satz folgendermaßen: ein in sich perfekt ruhender Gedanke umrankt in einem unnachahmlichen Wohlklang das gesamte vom Menschen erfassbare Universum.
Es handelt sich um eines der gelungensten Gedichte der Weltliteratur.
Im September 1780 schreibt Goethe – mit Bleistift – an die Holzwand einer Jagdaufseherhütte nahe Ilmenau im Thüringischen folgende Verse:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh.
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
September 1780. Goethe ist 31 Jahre alt.
Im August 1831, ein halbes Jahr vor seinem Tod, besucht Goethe erneut diese Hütte. Er liest seine Verse. Tränen kullern über seine Wangen. Eine anwesende, ihn begleitende Person vernimmt Goethes wehmütige, sanfte, kaum hörbare Worte: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch!“
Die beiden Szenen in der unscheinbaren Jagdhütte überbrücken ein halbes Jahrhundert. Die Kulisse ist schlicht, die handelnde Person ein genialer Schöpfergeist. Das, was die beiden Szenen verbindet, kann menschlicher nicht sein.
Soweit das Literaturgeschichtliche.
Im Zusammenhang mit diesen Versen gibt es auch was Heiteres. Es geht letztlich um das leidige Thema der literarischen Übersetzungen und Nachdichtungen.
1902 überträgt ein Goethe-Verehrer obiges Nachtlied ins Japanische.
1911 überträgt ein französischer Verehrer japanischer Lyrik die Verse vom Japanischen ins Französische. Damit aber nicht genug. Ein deutscher Bewunderer fernöstlicher Lyrik „übersetzt“ den französischen Text erneut ins Deutsche. Und das klingt dann so:
Stille ist im Pavillon aus Jade.
Krähen fliegen
Stumm zu beschneiten
Kirschbäumen im Mondlicht.
Ich sitze
Und weine.