BYE, BYE,  SOZIALDEMOKRATIE !

Geschichte ist unerbittlich.  Alles, was nicht zeitgemäß ist, wird gnadenlos ausgemustert.  Die Genossen sind auf dem – noch schleichenden – aber nicht mehr auf zu haltenden Weg,  sich aus der Geschichte zu verabschieden. Sozialdemokratisches Gedankengut ist – und auch hier bloß schemenhaft – nur noch an Europas Peripherie gefragt. Und auch nur halbherzig. Die Ära der Ikonen der großen Partei der Arbeiterklasse ist endgültig vorbei.

Allerdings kann man  der Sozialdemokratie eins nicht absprechen:  ihre großartigen historischen Leistungen über viele Jahrzehnte hinweg insbesondere in Westeuropa!  Ohne ihr sähe heute Europa ganz und gar anders aus.  Es muß in aller Deutlichkeit gesagt werden:  trotz gelegentlich himmelschreiender Mängel ist das heutige Europa noch immer für die meisten Menschen auf der gesamten Erde der geographische Ort, wo sie gerne arbeiten und leben möchten!  Dank (auch!) der Sozialdemokratie!

In den Ländern mit großer sozialdemokratischer Tradition spielen sie aber seit einiger Zeit nur mehr eine untergeordnete politische Rolle.  Die französischen Sozialisten wurden von Macron bis tief ins Mark erniedrigt. Es ist kaum an zu nehmen,  daß Italiens Sozialdemokraten sich aus ihrer Krise jemals befreien könnten.  Österreichs angesehene Sozialdemokratie dümpelt perspektivlos vor sich hin. Und vor kurzem nun der Absturz jener, die nicht minder als  in der direkten historischen Nachfolge der Gründer der Partei der Arbeiterklasse stehen:  die stolze deutsche Partei von Bebel,  Ebert,  Schuhmacher,  Brandt,  Schmidt.

Bye, bye,  Sozialdemokratie !

Eigentlich gäbe es so viele Gründe, auf das Sozialdemokratische in Europa nicht zu verzichten. Die einschlägigen Parteien aber haben nichts davon. Die große Saga dieser Parteien schreitet ihrem unvermeidbaren Ende entgegen. Der wilde Kapitalismus,  der einstens die Sozialdemokratie auf den gesellschaftlichen Plan gerufen hat, wurde jahrzehntelang vor allem in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von dieser Partei domestiziert. Sie hatten eine soziale Basis, worauf sie sich verlassen konnten:  die breiten werktätigen Massen, die Europa nach zwei bitteren Weltkriegen in blühende Landschaften verwandelt haben.

Der wilde Kapitalismus ist zurückgekehrt.  In einer neuen, modernen Fassung und wild entschlossen, unseren gesamten Planeten nach eigenen Vorstellungen um zu krempeln. Die alte Sozialdemokratie kann dieser geballten ökonomischen Wucht nichts entgegenstellen. Sozialdemokratie war letztlich Ausdruck des Klassenkampfes. Kapital versus Arbeit:  Kapital der berechenbaren, nicht spekulativen Sorte versus Arbeit geprägt vom Einsatz menschlicher Muskelkraft und verschwitzten Leiber.

Heute ist das Kapital verwegen, unberechenbar, grenzenlos spekulativ. Das Dienstleistungs- und Informationszeitalter hat keine gesellschaftlich homogene Klasse hervor gebracht, die diesem Kapital auch mit geringster Erfolgsaussicht Paroli bieten könnte.  Es fehlt dazu der berühmte geistige Überbau, eine Vision, ein oder zwei entscheidende sozial-politische Elemente, um die arbeitnehmerische Inhomogenität moderner Gesellschaften annihilieren zu könnten.  Das sozialdemokratische Ideal war stets das Fortschrittsideal.  Sie erdachten den Fortschritt, und es war ihnen auch vergönnt, in einer gar nicht kurzen historischen Epoche den Fortschritt zu verwalten und zu stabilisieren. Wehmütig denkt man zurück an die Zeit der Ikonen der goldenen sozialdemokratischen Ära Brandt – Kreisky – Palme, die Massen elektrisieren und begeistern vermochten.  Vorbei.

Vorbei,  weil das schlichte Denkmuster Rechts – Links nicht mehr zukunftsgerichtet ist.  Vor ein paar Monaten schrieb ich von der aufkommenden Polarität zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen. Die große Klassenkampf-Saga Kapital versus Arbeit wird latent aber unweigerlich abgelöst von dem Kampf zwischen den Verfechtern einer offenen und jenen einer geschlossenen Gesellschaft.  Zwischen Menschen, die ihr Heil in der Globalisierung sehen und Menschen, die darin eine Bedrohung wittern. Die jeweilige ideologische Basis, woraus die bedeutenden europäischen Volksparteien ihre Legitimation ziehen, bröckelt zusehend, weil ihnen immer mehr die adäquate wirtschaftliche und sozial-demographische Basis fehlt.

Nirgendwo in Europa war der Gegensatz, oft in Hass gesteigert, zwischen Links und Rechts so ausgeprägt wie in Frankreich. Wie von einem Tornado getroffen wurden die etablierten französischen Volksparteien, allen voran die Sozialisten, von der politischen Bühne weg gefegt. Die Brisanz dieses Politikums ist vielen noch nicht bewußt.

„Ni gauche, ni droite“. Starker Tobak.  Wie denn sonst politisch denken und handeln?  Macron verzichtet bewußt auf Etikettierungen, die Reformen, die er anstoßen will, sind weder gauche noch droite, die Ideen und die Ideale, die dahinter stehen, sind eine Best-of-Sammlung zeitgemäßer, moderner, in die Zukunft weisender gedanklicher Elemente.  Hat der Franzose das Tor aufgestoßen zu einer neuartigen politischen Denke in Europa?

Wer Erfolg haben will im Ökonomischen wie auch im Politischen muß eine Erzählung in petto haben. Eine Identifikation stiftende, glaubhafte aber insbesondere emotionale Botschaft, worin sich der Bürger dieses Jahrtausends wiederfindet. Die Sozialdemokratie verfügte 150 Jahre lang über eine derartige Erzählung. Aber die Strahlkraft der europäischen sozialdemokratischen Saga erlischt langsam,  weil Europa nicht mehr die jugendhaft-optimistische, kraftstrotzende soziale und politische Plattform ist,  die es einmal war.  Sozialdemokratie bedeutete Aufbruch zu neuen Horizonten, koste es , was es wolle. Die Rezepte, die die heutigen europäischen Sozialdemokraten anbieten,  überzeugen den Bürger des alten Kontinents nicht mehr.  Die einstigen Helden europäischer Historie und ihr Gedankengut sind nicht mehr gefragt. Weil sie im besten Falle verwalten, aber niemals mehr begeistern können.

Ein neuer Politikertyp bedient im Moment die politischen Sehnsüchte vieler Europäer.  Jung, smart, sportlich-attraktiver Typ, immer chic gekleidet, rhetorisch nahezu perfekt.  Selbst wenn sie althistorischen Parteien angehören, so lassen sie sich vom etablierten Mief der eingespielten Parteimechanismen nicht vereinnahmen. Macron, Kurz, Lindner, Renzi sind zwar „Parteisoldaten“, aber sie sind sehr darauf bedacht, eine eigene, persönlich gefärbte Geschichte zu erzählen, die aufhorchen und begeistern soll.

Sie ahnen:  die Europäer benötigen wieder eine Erzählung.  Eine, die unter die Haut geht.

Eine Saga, die das geistig und historisch gut definierte europäische Universum wieder deutet und ordnet.