Die Szene ist vielen von uns bekannt.

Einst traf Jesus am Jakobsbrunnen eine für die damalige Zeit eher ungewöhnlich selbstbewußte, kluge Frau aus Sychar. Die beiden kamen – auch sehr ungewöhnlich –  ins Gespräch, dabei versorgte die Frau den erschöpften und sehr durstigen Mann mit frischem Brunnenwasser.

Auch Jesus schenkte ihr anschließend Wasser. Wasser des Lebens, das ihr zur innerlichen Quelle wurde und so ihre Seele tröstete und neu belebte.

Die fast schon surreale Szene kann jeder gut nach vollziehen, der schon mal in einer in sich ruhenden Steinwüsten-Landschaft auf eine wie auch immer geartete Wasserquelle traf.

Seelsorge par excellence:  demütig, überzeugend, schnörkellos, kurz, inhaltsvoll.

Egal, wie man zum christlichen Glauben steht: die obige Szene gehört unstrittig zu den eindrucksvollsten Bildern der geistigen und geistlichen Kulturgeschichte unserer Zivilisation.

Viele Jahrhunderte nach Jesu´gewaltsamen Kreuzestod bestimmten auf unserem Kontinent weltliche Macht, repräsentiert durch die Krone, und geistliche Macht, repräsentiert durch die Kurie, gemeinsam das Schicksal aller europäischen Völker. Sie befehdeten sich oft auf blutig-grausame Weise, und sie vertrugen sich dann wieder je nach epochenspezifischer Interessenlage. Nicht selten zogen sie prinzipiell an dem selben Strang, die Räume des Glaubens und jene der Politik waren alles andere denn scharf getrennt. Nach unzähligen und harten Auseinandersetzungen, wo Krone, Kurie und viele beteiligte und unbeteiligte Untertanen unzählige Federn haben lassen müssen, ist es der europäischen aufklärerischen Elite gelungen, eine wenn auch nicht messerscharfe so doch deutlich wahrnehmbare Trennung zwischen oben erwähnten Räumen herzustellen.  Seit gut 200 Jahren gibt es diese wohltuende Demarkation zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Und sie hat sich im Großen und Ganzen für viele Generationen recht wohl bewährt.

Tempi passati – würde jetzt Joschka Fischer schmunzelnd einwenden.

Die heilige Kuh der Aufklärung –  die saubere Trennung von Staat und Kirche –  ist zum Schlachten freigegeben. Zumindest was Deutschland anbelangt. Das politische Denken macht keinen Halt vor Glaubenssphären. Noch intensiver versucht sich das Religiöse in das Politische ein zu bringen. Diesem Trend wurde bereits eine   Kennzeichnung verpasst:  von „Käßmannisierung“ wird neuerdings gesprochen, wobei oft nicht klar unterschieden wird, ob es sich um die Käßmannisierung der Politik oder der Kirchen handelt.

Fest steht: die Verkündigung des Evangeliums, Jesu´ Lehre und Individualethik, der transzendentale Moment des menschlichen Daseins, Fragen der Sorte „Worauf baust du im Leben und im Sterben, wenn es hart auf hart kommt?“ spielen bei den Kirchen kaum noch eine Rolle.  Aber in der politischen Öffentlichkeit wollen sie das große Wort führen. Sie sind an der Rettung der Seelen nicht mehr interessiert. Nur noch an der Rettung der ganzen Welt. Deshalb ist den Kirchen ihre eigene Kohlendioxyd-Gesamtbilanz besser bekannt als das Evangelium. Auch ist offenkundig, dass die meisten der nicht unbedeutenden Kirchenleute politisch gebunden sind. Als Parteimitglieder.

Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischof in Bayern, ist Mitglied der SPD. Ein Malheur ist das keineswegs.  Nur: hört man ihn sprechen und folgt man seinen Gedanken, kann man nicht umhin, zu der Überzeugung zu gelangen, dass Gott derselben altehrwürdigen deutschen Partei angehört wie der Herr Ratsvorsitzender. Ohnehin ist die politische Ausrichtung der Evangelischen Kirche dem linken Spektrum zu zuordnen. Oft dem äußeren linken Spektrum.  Klare Positionierung. Muss das sein?  Darf das sein?

Das deutsche Kirchenoberen-Duo Bedford-Strohm und Kardinal Reinhard Marx fühlt sich im politischen Raum heimischer und somit wohler als im geistlichen.  Als beide, Marx im Kardinalsgewand, Bedford-Strohm mit Lutherrock, vor einem Jahr auf dem Tempelberg in Jerusalem ihre Kreuze ablegten – um,  wie sie im nachhinein erklärten,  niemanden zu provozieren – war das der bisherige Höhepunkt eines christlich abartig degenerierten Verhaltens.  Ein klarer Fall für Fremdschämen. Wenn du weißt, dass das Kreuz Jesu jemanden provoziert, dann hast du konsequenterweise an jenem Ort nichts zu suchen. Nichts.

Apropos Luther. Er war alles andere denn unpolitisch. Er konnte und durfte sich angesichts dessen, was er in Europa los getreten hat, dem Politischen gar nicht entziehen. Niemals kamen bei ihm aber Zweifel auf, worauf es letztendlich ankommt. „Seine Kirche“ durfte sich zwar zum politischen Tagesgeschehen äußern, aber sie hat keinen Augenblick das Transzendentale und folgerichtig Jesus als das Gravitationszentrum des christlichen Glaubens aus dem Blickfeld verloren. Es sind Welten, die die heutigen Kirchen von jener des Reformators trennen. Weite Welten. Wie viel weiter sind wir dann von der Jakobsbrunnen-Szene?

Als die beiden deutschen Kirchenoberen ihre Kreuze in Jerusalem ablegten, hat sich Luther dreimal im Grabe gedreht.

Selbstredend wissen wir nicht, was Jesus in jenem Augenblick gedacht hat. Welches Bild ist ihm durch den Kopf gegangen?  Ein bestimmtes?  Oder: gar keines?

Eher noch,  denke ich,  flüsterte er leise vor sich hin –  indes auf seine einmalig liebevolle Art tief seufzend –  die uns allen Menschen leidlich bekannten, gleichzeitig beschämenden Worte:

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“