AMBIVALENZEN

In westeuropäischen Gesellschaften und auf dem nordamerikanischen Kontinent tobt seit Jahren ein Kulturkampf. Nach meiner subjektiven Wahrnehmung nimmt die Unerbittlichkeit dieses Kampfes von Jahr zu Jahr zu. Deutschland macht hier naturgemäß keine Ausnahme.
Westdeutschland hat nach dem totalen Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 gute 2 Jahrzehnte einem ausgeprägten konservativen Geist gehuldigt. Ende der 60er Jahre geraten die geistigen Leitplanken der (west)deutschen Gesellschaft ins Straucheln. Es reift eine Ära heran mit einer neuen, rebellischen Generation. Sie üben sich jahrelang in Vorstößen und Kampagnen scharfer Abgrenzung zu der geistigen Welt ihrer Eltern und es gelingt ihnen – durch den berühmten Marsch durch die Institutionen – spätestens ab der Jahrtausendwende den postmodernen Kulturkampf für sich zu entscheiden. Seit zwei Jahrzehnten weht über das nunmehr vereinte Deutschland der linksliberale Odem. Selbst die CDU – ehemals Bollwerk liberal-konservativer Überzeugungen – vollzog unter Angela Merkel einen Linksruck, der der deutschen Gesellschaft offensichtlich einen Bärendienst erwiesen hat, indem die Merkelsche neue Weichenstellung die rechte Flanke der Partei und auch der Gesellschaft „schutzlos“ anderen politischen Kräften überließ.
Gleichwohl lehrt uns die Geschichte der zivilisierten Welt: Keine geistige Strömung bleibt über längere Zeit ungeschoren, eine jede etablierte Wahrheit löst über kurz oder lang einen Gegenwind aus. Eine solche Gegenreaktion erleben wir just und hautnah in der westlichen Kultur- und Politsphäre. Konservatives Gedankengut ist auf dem Vormarsch, die Skepsis der Menschen gegenüber linkem und linksliberalem Anspruch und Geltungsdrang schwindet zusehends.
Wir stehen offenbar erneut vor einem Paradigmenwechsel der gesellschaftlich vorherrschenden Wertvorstellungen. Einige Länder Europas sind bereits dabei, die Ära eines postmodernen Konservatismus zu etablieren. Ob eine solche Ära von Dauer sein wird, ist im Moment nicht vorhersagbar. Die Gesellschaften folgen sichtbar einem steten Auf und Ab einander sich bekämpfenden und dann sich ablösenden Wertmaßstäben.
Die Feststellung gehört eher zur Kategorie der Binsenweisheiten, dass der Mensch für Zeiten sich ändernder politischer, sozialer, kultureller oder philosophischer Überzeugungen schlecht gerüstet ist. In einer sich fast schon extrem wandelnder Welt tritt das Gefühl, überfordert zu sein, relativ schnell und abträglich ein. Jeder Mensch meidet, soweit möglich, jegliche Art von Überforderung. Jeder Strohhalm, der auch nur die kleinste Aussicht vorgaukelt, Orientierung, Halt und Gewissheit zu gewähren, wird dankend ergriffen.
Es kommt in einer solchen Gemengelage, wie es halt eben kommen muss: Man wagt den ersten Schritt in Richtung Glaube.
Glaube vermittelt Sicherheit, er verfügt über orientative Leitplanken und bietet damit Halt in wankenden Lebenslagen.
Wir alle sind Gläubige.
Das ist vielen Zeitgenossen nicht bewusst. Womöglich glauben die meisten nicht mehr an Gott, schließlich ist man emanzipiert. Diese so verstandene Emanzipation begann vor gut 300 Jahren mit der Aufklärung.
Seitdem wir Menschen „Gott für tot“ erklärt haben, sind wir dauernd auf der Suche nach Ersatz. Heute heißt der Ersatz wahlweise Universalismus, Globalisierung, freie Märkte, Digitalisierung, Integration und Inklusion, Zivilgesellschaft, Feinstaubwerte, Veganismus usw. Ein ganzes Panoptikum neuer Götter und Götzen. Und mit diesen neuen Göttern ist es nicht anders als mit den alten: Sie sind eifersüchtig und wenig tolerant. Sie dulden keine anderen Götter neben sich.
Die Unduldsamkeit ist ein Markenzeichen der Gegenwart geworden. Es gibt die Erleuchteten, die (wieder einmal!) von ewigen Wahrheiten schwadronieren. Eine Unmenge säkularer Glaubenslehren durchdringt die Gesellschaft. Wer diese Lehren anzweifelt, riskiert soziale Ächtung. Die Vision einer bunten und vielgestaltigen Öffentlichkeit, die kritisch aber vor allem tolerant diverse Meinungen und Weltanschauungen zulässt, ist schlicht und einfach: eine Illusion.
Apropos Toleranz. Auffällig die „Auferstehung“ der Figur des Leugners. Jahrhunderte war der Gottesleugner Verkörperung tiefster Verwerflichkeit. Heute erzeugen Klima- und Coronaleugner allgemeine Empörung. Wir sind zu einer Empörungsgesellschaft mutiert. Alles, was nicht eigener Weltvorstellung entspricht, empört. Die Frustrationstoleranz ist so niedrig wie selten zuvor.
Es ist bekannt, dass im Mittelalter Priester und Exorzisten die Aufgabe übernahmen, Ungläubige und Skeptiker zu bedrängen und zu drangsalieren. Die modernen Exorzisten unserer heutigen Welt heißen Experten. Ihr Kruzifix ist die herrschende Meinung. Ihre Mission: ketzerische Lehren bloßzustellen und ihre Anhänger dem medialen Fegefeuer anheimzugeben.
Sie sind die Priester der Spätmoderne. Der Experte gibt der säkularen Welt Halt und Orientierung, die dem Zeitgenossen gänzlich abhandengekommen sind. Nietzsche hatte eine Vorahnung:
„Gott ist tot! Und Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet“ lässt der Pfarrerssohn Nietzsche den tollen Menschen ausrufen. Und fragt: „Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?“
Der Tod Gottes überfordert uns Menschen, diese Prognose des sächsischen Philosophen scheint sich drastisch zu bewahrheiten. Der Mensch ist offensichtlich unfähig, die „metaphysische Obdachlosigkeit“ zu ertragen, ohne Schaden zu nehmen. Er erschafft sich fortwährend Götzen, die er anbeten kann. Früher verlangte der Glaube Beichte und Umkehr. Heute erlangt der moderne Mensch Erlösung durch Einhaltung von Grenzwerten. Der Aberglaube ist nie ausgestorben. Er hat sich nur fortwährend verlagert. Man glaubt nicht mehr an Geister und Dämonen, sondern an Blutwerte, Staubkonzentrationen oder farbig gestaltete Klimakurven.
Eine Heerschar von Klerikern und Gelehrten definierten über viele Jahrhunderte das, was als ewige und unumstößliche Wahrheiten zu gelten hatten. Vom Prinzip her ist heute alles so wie anno dazumal: Die Definitionen liefern ein fein gesponnenes Netzwerk weltweit aus Politik, NGOs und Universitäten. Und diese bestimmen auch, wer als Experte zu gelten hat. Sehr bedenklich ist indes ein weiteres Phänomen: Der postmoderne Experte verbindet seine empirisch gewonnenen Erkenntnisse mit normativen Einschätzungen. Im Klartext: Wissenschaftliche Sprache und moralische Sprache beginnen miteinander zu verschwimmen. Die Grenze zwischen wissenschaftlichen Fakten und Moral wird bewusst aufgehoben.
Wieso denn das nun?
Weil uns postmodernen Menschen die „metaphysische Obdachlosigkeit“ lediglich die Moral als letztes Sinnangebot bereithält, da sämtliche anderen Angebote von der unaufhaltsamen Entwicklung menschlicher Gesellschaften in roher Bedenkenlosigkeit zerschreddert wurden.
Moral ist epochenspezifisch und wird einer Gesellschaft aufoktroyiert von jenen, die „das Sagen haben“. Zu allen Zeiten wurden Kritik an der herrschenden Meinung und den jeweiligen moralischen Vorstellungen mit Empörung zurückgewiesen. Heute ist es nicht anders. Die unsere Gesellschaften durchdringenden Ersatzreligionen werden mit dem gleichen Fanatismus verteidigt, wie das seit eh und je der Fall war. Die Angepasstheit an den moralpolitischen Zeitgeist ist die letzte Zufluchtsstätte von Menschen, die jede traditionelle Heimat verloren haben. Hierin liegt vermutlich auch eines der Gründe, weswegen die dominierenden moralischen Debatten, dass Fragen nach Gerechtigkeit, Diskriminierung, Nachhaltigkeit und Diversität heutzutage einen dermaßen hohen Stellenwert gewonnen haben.
Hier findet eine Gesellschaft, deren tragende Ideologie Kontinuität, Beständigkeit und Tradition vehement ablehnt, den notwendigen Halt, um nicht von der „metaphysischen Obdachlosigkeit“ kirre gemacht zu werden.
Dem Dunstkreis des alles bestimmenden Zeitgeistes und der effektiv arbeitenden Meinungsindustrie zu entkommen, ist für das Individuum alles andere denn ein leichtes Unterfangen.
Und trotzdem: Es gilt, zu versuchen, sich nicht gemein zu machen mit einer Sache. Auch nicht mit einer Sache, die auf den ersten Blick gut aussieht. Es gilt, unaufgeregt und sich mit sanfter Gelassenheit von einer Leitkultur des Zweifelns leiten zu lassen. Skeptischer Blick in sämtliche Richtungen. Auch in Richtung eigener Meinung.
Denn das Gute gibt es nur selten.
Ebenso wie das Schlechte.
Die Welt und alle ihre Erscheinungen sind uneindeutig.
Sie – die Welt – ist zutiefst ambivalent.

Post Skriptum:
Dieser Artikel ist entstanden, weil ich den Ausdruck „metaphysische Obdachlosigkeit“ für äußerst gelungen fand. Gefunden habe ich ihn bei Alexander Grau, Philosoph und Publizist unserer Zeit. Seinen Ideen und Überzeugungen folge ich mit größtem – in seinem Sinne nunmehr auch skeptischem – Vergnügen. Obiger Artikel ist auch folgerichtig das Ergebnis dieses Vergnügens.