UNGEREIMTHEITEN

Die Szene im Viertelfinalspiel Deutschland-Spanien, da Musiala die Hand des spanischen Wuschelkopfes Cucurella im Elfmeterraum trifft, hat das Zeug, das zu werden, was das Wembley-Tor seit vielen Jahrzehnten bereits ist: ein Kult-Moment des Fußballsports. War es ein Elfmeter? War es nicht?
Das sind jene Momente, die sich in das Bewusstsein sportbegeisterter Zeitgenossen einprägen.
Die Fußball-Europameisterschaften sind noch im vollen Gange. Es stehen die Halbfinalspiele an.
Mit der deutschen Mannschaft darf man getrost zufrieden sein. Gegen die zurzeit agierende spanische Mannschaft den Kürzeren zu ziehen, ist alles andere denn eine Schande.
Grund zum Debattieren gäbe es zuhauf. Das leidliche Thema VAR gehört ebenso dazu wie die – gefühlt – oft willkürlich festgelegte Anzahl der Minuten in der Nachspielzeit.
Auffallend zugenommen hat indes die Qualität der Theatralik nach einem echten oder vermeintlichen Foulspiel. Man kann sich als Zuschauer des Eindrucks nicht erwehren: In dem Augenblick, wo ein Gegner den (meistens) ballführenden Spieler auch nur im geringsten Maße berührt, löst diese Berührung im Letzteren einen fast schon automatisierten Reflex des wilden Aufschreiens, des sich Hinschmeißens und des Hin-und-Her-Wälzens aus, der, so wie das spontan und meisterhaft ausgeführt wird, nur einen Schluss zulässt: Dieser Reflex wird akribisch und detailversessen trainiert. Es werden gezielt körperliche und sprachliche Reaktionen trainiert, um den Unparteiischen hinters Licht zu führen.
Damit wird dem Fußballsport ein Bärendienst erwiesen. Die moderne Bildübertragungstechnik projiziert diese willentlich unfaire Spielweise sekundenschnell auf die Millionen Zuschauerbildschirme. Immer öfters hinterlassen derartige Bilder einen abtörnend schalen Geschmack.
Na ja, sei’s drum. Unfairness im Sport ist an sich beileibe nichts Neues, das gab es immer. Da unfaires Verhalten aber früher für den Zuschauer eine unwiederholbare Momentaufnahme darstellte und diese somit in seinem Bewusstsein schnellstmöglich verpuffte, hatte es nicht die Qualität eines erheblichen Störfaktors. In der heutigen hypermedialisierten Zeit sieht die Sache indes anders aus. Es stören antrainierte Theatralik und der schamlose Hang, jederzeit unfaire Mittel einzusetzen.
Nun gut. Zum Schluss (gegebenenfalls) mehr als eine Randbemerkung:
Seit nahezu einem Jahrhundert gehört Fußball – zumindest in Europa – zu jenen Ereignissen, die sowohl Individuen als auch ganze Nationen in ihren Bann ziehen. Große Fußballereignisse werden zelebriert, wodurch sie eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Wirkung ausüben. Vor, während und nach dem Ereignis entstehen Blasen, getragen von Emotionen größter Intensität. Diese Emotionen sind alles andere denn wertfrei, am allerwenigsten politisch wertfrei. Jedes Fußballereignis transportiert Werte. Und diese sind erfreulicherweise nicht selten positive Werte.
Allerdings dürfen wir die Augen nicht verschließen, wenn es um – salopp und beschönigend ausgedrückt – Ungereimtheiten geht.
Ein guter Freund (und Mentor zugleich) hat mich zu diesem Thema auf einen Artikel in der FAZ aufmerksam gemacht.
Zu dem Thema: Ungereimtheiten.
Ich zitiere aus der FAZ: „Eine Europameisterschaft ist eigentlich ein Anachronismus. Seit Jahrzehnten bemühen sich glühende Europäer um ein Zusammenwachsen der Nationen auf dem alten Kontinent. Aber seit 1960 lassen sie ihre Fußball-Nationalteams alle vier Jahre aufeinander los, feierlich begleitet von Hymnen und Abertausenden Fahnenträgern im Namen der nationalen Sache. Und dann wird getreten und gehackt, gebrüllt und verhöhnt, beleidigt und bespuckt. Der Niederländer Ronald Koeman nahm 1988 das Nationaltrikot von Olaf Thon und wischte sich damit symbolisch den Allerwertesten ab. Ein Albtraum, nicht nur für Diplomaten. Binnen Sekunden vernichtet eine hässliche Szene, was über Jahrzehnte mühsam aufgebaut wurde, verstärkt zumindest schwelende Ressentiments, reißt zugeschüttete Gräben auf. Fußball kann auch trennen. In ihm steckt eine gewaltige Kraft.“
Außerhalb der Stadien und insbesondere auf den Rängen während der Spiele war das überspannte und deshalb anrüchig-bedenkliche nationale Momentum bei dieser Europameisterschaft 2024 in Deutschland der entscheidend dominierende Faktor.

Wir alle in Europa müssen mit diesen Ungereimtheiten leben.
Mit den zusammenführenden und den trennenden Augenblicken des Lebens.