MAUERN EINREISSEN

„In der linken Xenophilie äußert sich weniger der Gedanke der Toleranz als der verklemmte deutsche Selbsthaß, der den Fremden nur deshalb willkommen heiße, damit sich die Verhältnisse endlich in der berühmten faschistoiden Kenntlichkeit zeigten.“ (frei nach Botho Strauß)
Das Zitat ist willkürlich gewählt: Es ist mir sozusagen über den Weg gelaufen.
Das Thema ist aber ein Dauerrenner und von hartnäckiger Aktualität. Welche sind die roten Fäden des deutschen Selbstverständnisses der letzten 70 Jahre?
Uferlos, endlos und unbegrenzbar ist dieses Thema. Es ist ein weites geistiges Feld, woran sich unzählige kluge Köpfe abgearbeitet haben.
Ein neues gesellschaftliches Phänomen ist in der westlichen und entsprechend auch in der deutschen Welt zu verzeichnen: Bilderstürmer und Denkmalvernichter.
Zerstören. Erinnerung ausradieren. Bürger getrieben von hehren Weltverbesserungsüberzeugungen und -fantasien.
Natürlich darf sich jede Generation an Vergangenem und vermeintlich Verblühtem abarbeiten. Aber jene, die wüten und zerstören, müssen sich den Folgen ihres Handelns stellen: Jede Zerstörung, jede noch so unbedeutende, revolutionäre Handlung wirkt destabilisierend, rüttelt an Grundfesten, die von vergangenen Generationen mühsam errichtet und verteidigt wurden. Solche Aktionen richten oft mehr Schaden an, als vermeintlich augenfällige Missstände behoben werden.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Rufe immer schriller werden, die eine radikale Unterhöhlung sämtlicher stabilisierender Traditionen verlangen. Ja, das ewige Motiv: Tradition. Allein schon der Begriff, bar jeden Inhalts, war und ist für sämtliche jungen Generationen ein tiefrotes Tuch. Es gab wohl nie, in keiner Epoche, eine Jugend, die in der Tradition ein Bewahren einer lodernden Flamme statt der Anbetung von erkalteter Asche gesehen hätte.
In einem lediglich verhaltenen Ton gebe ich zu Bedenken: Hinter den Mauern, die unsere Ahnen – alle Ahnen, nicht nur die deutschen –  in ihrer Weisheit errichtet haben, warten womöglich mehr Schrecken, als wir absehen können. Nichts ist so populär, wie das Einreißen von Mauern. Jede Generation tut das auf eigene Gefahr: nach dem Vorgang des Zerstörens gleitet man oft ahnungslos über dünnes Eis, doch unter der kaum tragfähigen dünnen Schicht, im kalten dunklen Wasser, lauern die Monster.
Es fällt den Deutschen seit dem Ende der 50-er Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht schwer, Mauern einzureißen. Dabei ist keineswegs die berühmteste aller Mauern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert gemeint. Wenn die Deutschen Spuren des Alten sehen, bereitet es ihnen sofort Unbehagen.
„Die Deutschen haben nach 1945 eine Geschichtskultur der befreienden Abkehr entwickelt. Sie sind nun immer gegen Militarismus und Autoritarismus. Die meisten anderen Gesellschaften haben eine Kultur der affirmativen Erinnerung“ schreibt Andreas Rödder, einer der oben erwähnten zeitgenössischen klugen Köpfe.
Und es heißt bei ihm weiter: „Die Rechte leidet am Identitätswechsel der Deutschen und versucht, ihn rückgängig zu machen. Die andere Seite, die moralisierende Linke, treibt die „Therapie“ durch vollständige Abkehr von der eigenen Tradition immer weiter. „Nie wieder Deutschland“. Wer das sagt, radikalisiert diese deutsche Tradition des Identitätswandels. Es gibt eine deutsche Mitte, die sprachlos ist und die Hosen voll hat. Sie steht zwischen der Sakralisierung der Diversität der Linken und der Sehnsucht nach Homogenität auf der rechten gesellschaftlichen Seite“.
Da ist was dran an dem Bonmot:
Den ganzen Ärger macht nicht das, was wir nicht wissen, sondern das, was wir sicher zu wissen glauben, obwohl es gar nicht zutrifft.