Versetzen wir uns in Anno Domini 1348. (Der Vollständigkeit halber: Anno Domini Nostri Jesu Christi)
Richten wir unseren Blick auf Florenz. Damals das Non plus Ultra europäischer Zivilisation, eine der Adressen höchster kultureller Raffinesse. Und dann plötzlich die Heimsuchung: Die Pest, der schwarze Tod, der Inbegriff der todbringenden Seuche schlechthin.
In dem brillant verfassten IL DECAMERONE hat Giovanni Boccaccio die todbringende Seuche in seiner (geistigen) Heimatstadt mit unvergleichbarem dichterischen Können festgehalten. Zehn junge Menschen – allesamt junge Frauen und junge Männer – verlassen rechtzeitig die vom Tod im Würgegriff genommene Stadt, sie fliehen aufs Land: In ein toskanisches Dorf und hier auf einen wohl prosperierenden Landsitz. Weit weg von der todgeweihten Stadt (zwei Dutzend Kilometer waren damals schon weit weg) verbringen sie – so Boccaccio – unbeschwerte Stunden in vermutlich vollster Abgeschiedenheit, indem sie sich erotisch-heitere Geschichten zur Unterhaltung erzählen.
Seit Menschengedenken gibt es sie: Die Seuchen. Sie haben mehr Menschenleben auf dem Gewissen als sämtliche Kriege. Daran wird sich wohl kaum was ändern, solange Menschen eben Menschen sind mit und in ihrer biologischen Determiniertheit.
Deshalb ist die Aufgeregtheit, die die gesamte Welt heute ergriffen hat, weitestgehend unangebracht. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts müssten mit deutlich mehr Resilienz dem Coronaphänomen entgegentreten. Dass viele Zeitgenossen resilienzaffines Verhalten an den Tag legen, ist nicht zu bestreiten.
Und trotzdem: Der Grundtenor des sozialen Verhaltens nahezu überall auf der Welt ist gekennzeichnet durch Vulnerabilität und einer nicht zu leugnenden Neigung zu panischem Verhalten.
Die jungen Florentiner auf dem toskanischen Landsitz nutzten die außerordentliche Situation der im Lande grassierenden Seuche, um in ihren Erzählungen nebenbei auch die geltenden Werte und Normen ihrer damaligen Zeit zu hinterfragen. Nach knapp zwei Wochen „Isolationshaft“ haben sie die gemütliche Residenz in Richtung Florenz wieder verlassen.
An den Werten und Normen, die sie hinterfragt haben, hat sich derweil und in ihrer – gleichermaßen fernen – Zukunft nichts geändert.
Auch in diesen Tagen, da nahezu die gesamte Menschheit innehält, da in der pandemischen Hilflosigkeit Momente des Verschnaufens, ja der FREIHEIT zutage treten, wo das Ökonomische und das Soziale oft brutal heruntergefahren werden, wird vieles unter die Lupe genommen und folgerichtig hinterfragt. Die sozialen Medien werden regelrecht überflutet von solchen Beiträgen. Hinterfragt werden der globale, digital-kapitalistische Lebensstil, auch das erdrückende Primat ökonomischen Denkens über alles, aber wirklich alles, was uns Menschen eigentlich wichtig, fast schon heilig ist.
Jetzt gäbe es reichlich Zeit zum Nachdenken, Zeit sich Geschichten zu erzählen und darüber zu diskutieren, was wir besser machen könnten in der Zukunft, die mit dem morgigen Tag beginnt.
Im Grunde genommen ist das Virus auf der Durchreise. Es wird baldigst seine Gefährlichkeit einbüßen, über die Klinge springen und seinen Geist aushauchen.
Geist? Welchen Geist? Wer sonst als Goethe hat den Wesenskern allen Bösen in ewig gültige Worte gefasst:
„Ich bin der Geist, der stets verneint!/Und das mit Recht: denn alles was entsteht, /ist wert, dass es zugrunde geht./
Wahrlich, die beiden letzten Verse haben es in sich!
Ach was! Geist hin oder her!
Und Goethe kann mir auch den Buckel runterrutschen.
Wir werden in Bälde eh alle wieder aufdrehen, als ob nichts gewesen wär.