Es ist nicht lange her, da habe ich über die Stille räsoniert. Über die wohltuende Stille als Frucht der Weisheit und als Voraussetzung für die Kenntnis der letzten Dinge.
In großer Bescheidenheit und stilvoller Stille, für unsere Medien lediglich als Fußnote der Gegenwartsgeschichte erwähnungswürdig, wurde vor einigen Tagen der neue japanische Kaiser Naruhito inthronisiert.
Eine aus der Zeit gefallene Zeremonie. Der eigentliche Akt der Inthronisation vollzieht sich still: während der Zeremonie redet der Kaiser nicht, er bewegt sich kaum. Es wird  auf alles verzichtet, was der Würde und Erhabenheit des Augenblicks nicht dienlich ist. Ähnlich sieht übrigens auch der kaiserliche Alltag aus: sehr selten darf sich der Tenno eine eigene Meinung erlauben.
Er hat zu schweigen. Schweigend, nur durch seine Art zu leben, repräsentiert er die Würde und Tradition seines Volkes.
In dieser Würde, die eine wohltuende Ruhe und eine ungekünstelte Bescheidenheit ausstrahlt, liegt womöglich die Kraft der ältesten Monarchie der Welt.
Welch ein Gegenentwurf zum lauten Getöse der üblichen Weltpolitik!
Es liegt mir fern, japanische Gepflogenheiten und Verhältnisse zu idealisieren. Andererseits kann ich nicht übersehen, dass die Art, wie das japanische Volk und sein Kaiserhaus das gesellschaftliche und individuelle Leben meistern, zum Nachsinnen anregt.
Warum kann und will ein technologisch hochmodern aufgerüstetes Land auf eine so sehr aus der Zeit gefallene Institution nicht verzichten? Wieso verträgt die moderne japanische Gesellschaft diese in Jahrhunderte alten Ritualen erstarrte Monarchie? Offensichtlich will das japanische Volk, das mit einer uns befremdlichen kollektiven Weisheit ausgestattet ist, das so. Augenscheinlich hat das Volk diese weise Erkenntnis über Jahrhunderte in stiller und höflicher Zurückhaltung verinnerlicht. Und eine genauso höfliche, bescheidene und stille Antwort sendet das japanische Kaiserhaus seit ewigen Zeiten an „die Untertanen“.
In diesem Zusammenhang stellt sich für mich eine weitere Frage:
Warum sind in unserem Kulturkreis und auch anderswo auf der Welt die Monarchien nach und nach gestrandet? Warum wurden sie von der Geschichte entsorgt? Natürlich haben vielfältige Ursachen ihren Beitrag dazu geleistet. Aber eins ist gewiss: viel dazu haben ihre Geltungssucht, ihre Selbstgefälligkeit, ihr lautes Ego, das sich stets in den Vordergrund Drängeln beigesteuert.
Übersetzt lautet Naruhitos Name: „Jemand der Klugheit, Klarheit, Weisheit und Verstehen durch himmlische Tugend erlangt“. Das ist eigentlich kein Name. Das ist Programm. So etwas Ähnliches hatten in der ganzen Geschichte der Menschheit die allerwenigsten Monarchen. Weswegen sie auch entsorgt wurden.
Das Dauernde und das Gestaltende ist allein die IDEE, und zwar diejenige, der in irgendeiner Form ein Glaube zugrunde liegt: der Glaube an einen größeren Zusammenhang, an eine höhere Verpflichtung.
Ein Volk mag sich welche Aufgabe auch immer stellen, sie wird nicht verwirklicht, wenn sie nicht auf Glauben – egal welcher Art – beruht.