Vielen ist der Ausspruch „Geschichte wiederholt sich nicht“ wohlbekannt. Ich konnte diesem Satz nie ohne Abstriche beipflichten, das habe ich auch immer wieder in früheren Beiträgen so unterstrichen.
In der Geschichte erkenne ich unschwer rote Fäden: eigen sind solchen roten Fäden eine gewisse natürliche Kontinuität sowie eine nicht zu ignorierende Wiederholungsneigung einzelner historischer Abläufe.
Heute ist der Nahe und Mittlere Osten wieder einmal im Fokus der Weltpolitik. Allerdings sollte man sich bewußt machen, dass diese Gebiete nicht zum ersten Mal im Mittelpunkt des Weltgeschehens stehen. Sie standen bereits einige Jahrhunderte vor Christi Geburt im Brennpunkt der damaligen noch recht bescheidenen Weltgeschichte. Und jedes Mal betrafen diese weltbewegenden Ereignisse auch das zahlenmäßig unbedeutende jüdische Volk, bei dem ein roter, ja sogar dunkelroter Geschichtsfaden mehr als offensichtlich zu Tage tritt.
Gewiss: thematisch ist das ein überaus heisses Eisen. Man erleidet leicht Brandwunden, wenn man sich der Geschichte dieses heißen Eisenstückes widmet.
Ich nehme sie in Kauf.
Bevor Griechen und vor allem Römer es in drei Jahrhunderten geschafft haben, den jüdischen Staat auszulöschen und nahezu die Gesamtheit des Volkes in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen, war Babylon ca. ein halbes Jahrtausend früher an der gleichen Stelle mit sehr ähnlichen Ambitionen. Geographisch und grob geopolitisch gesehen erstreckte sich der Kern des babylonischen Reiches auf dem jetzigen Gebiet des Iraks sowie Teile des heutigen westlichen Irans. Babylon löste gut 600 Jahre v.Ch. die ägyptische Oberhoheit über jene Gebiete ab, die in unseren Zeiten von Israel, Libanon, Jordanien und Syrien eingenommen werden. Zweifelsohne: ein mächtiges Reich.
Das jüdische Volk wagt einen zaghaften Widerstand, der von den Babylonier dazu genutzt wird, sämtliche Landstriche zu verwüsten und etliche Tausend Juden nach Babylon „zu verfrachten“. Diese erste Verbannung entfacht bei den Juden einen noch stärkeren Widerstandswillen, der natürlich erneut gebrochen wird. Der große Nebukadnezar rückt persönlich heran und läßt das Land systematisch verwüsten. Viel Volk flieht „hinauf“ nach Jerusalem. Im Winter des Jahres 587 v.Ch. wird Jerusalem eingeschlossen. Eine grauenhafte Hungersnot bricht aus. Monate später fällt die Stadt. Sinnloses Morden und Hinrichtungen überall. Alles Volk, soweit es zu greifen ist, wird nach Babylon verschleppt. Vier Tage dauert die anschließende Zerstörung Jerusalems: Häuser, Tempel, Paläste werden verbrannt. Stadt und Land: ein Trümmerhaufen. Elegien, dem Propheten Jeremia zugeschrieben, weinen über diesen Untergang. Noch heute, gut 2500 Jahre später, werden diese Elegien am 9. Ab, den Tischa be`Ab, in den Synagogen der Welt gebetet. (Ganz nebenbei: welches uns bekannte Volk hat ein solches oder zumindest ähnliches Geschichtsbewusstsein?)
Zurück nun zum Schicksal des jüdischen Volkes: ihr Staat ist vernichtet, Hauptstadt und Tempel in Trümmer. Das Land entvölkert und verödet. Die noch lebenden Menschen gefangen, vermindert, zersprengt.
Nichts ist mehr da. Und doch ist noch ALLES da: die geistige Kraft.
Und abermals und auch dieses Mal ganz nebenbei: hierin liegt eindeutig seit gut 3000 Jahren der sehr individuelle rote Faden der Geschichte des jüdischen Volkes.
Dieser Faden ist in der Zeit der schicksalhaften Begegnung der römischen Zivilisation mit der jüdischen Welt auch gut erkennbar. Es geschieht bekannterweise ganz was Ähnliches. Das Ende dieses Zusammenstoßes hat der bekannte Historiker Theodor Mommsen so zusammengefasst: „Wenn die Legionen Jerusalem zerstören konnten, das Judentum selbst konnten sie nicht zerstören.“ Klar erkennbar ist auch in diesem Falle die eingangs erwähnte Wiederholungsneigung historischer Abläufe.
So reiht sich in die keineswegs automatische oder gesetzmäßige aber doch auffällige Neigung auch die jetzige geopolitische und militärisch-strategische Situation ein, die sich in den letzten Jahren im Nahen und Mittleren Osten herausgebildet hat. Natürlich kann man die geopolitische Großwetterlage von heute in dieser Region mit jener zur Zeit Nebukadnezars nicht wirklich miteinander vergleichen.
Und trotzdem: die Töne aus jenen Gebieten, die einst Babylon beherrschte, insbesondere aber aus der Hauptstadt eines später entstandenes mächtigen Reiches in dieser Region, in Richtung Israel, sind mit dem Geist, aus dem heraus Nebukadnezar dann zur Tat schritt, nicht wesentlich wesensfremd. Das mächtige und militärisch enorm starke babylonische Reich „verspeiste“ genüsslich das zahlenmäßig kleine und militärisch lächerlich schwache jüdische Volk. Der Geist, der damals Babylon leitete, ist seit einer ganzen Weile wieder in dieser Weltregion präsent.
Heute, 2500 Jahre später, gestaltet sich die Situation indes anders. Die „Nachkommen“ Nebukadnezars und insbesondere die des anderen großen Reiches ostwärts des Euphrat und Tigris wären gut beraten, dem Säbelrasseln keine Taten folgen zu lassen.