Es passiert genau das, was sie wollen.
Es passiert das, wovor wir hier im kuscheligen westeuropäischen Nest seit langem von klugen und weitsichtigen Menschen gewarnt worden sind. Kluge, weitsichtige und verantwortungsbewusste Menschen nannte man früher Propheten. Wie so viele andere ähnlich geartete Erscheinungen ist auch dieser Begriff längst dem heutigen kritisch-allwissenden Zeitgeist zum Opfer gefallen und der Lächerlichkeit preisgegeben.
Im SPIEGEL ist unlängst ein Interview mit einem jungen indischen Historiker unter dem Titel: „Wer den Dschihad verstehen will, muss auf Deutschland schauen“ erschienen. Ein Mann aus einem fernen Kulturkreis denkt meisterlich global mit kluger historischer Kombinationsfähigkeit. Wen in Europa interessiert das schon?
Mit einem ähnlich dämlichen Desinteresse wurde übrigens vor mehr als 20 Jahren auch ein gewisser Samuel Huntington konfrontiert. Die Thesen in seinem Buch „Clash of Civilizations“ wurden weitestgehend ignoriert, als ein hinterwäldlerischer Spinner wurde er betrachtet und das gehörte noch zu den feineren Titulaturen, die man ihm zugedacht hat: sozusagen ein Denker-Gnom zum Vergessen, ein verantwortungsloser Panikmacher.
Das Dumme an der Sache: wovor er uns vor zwei Jahrzehnten gewarnt hat, ist seit einiger Zeit westeuropäische Realität. Wir haben einen Krieg ohne Kriegserklärung, wir sind Angriffen ausgesetzt auf unsere Art, das Leben zu denken und zu führen, die uns in allen Hinsichten überfordern, wir erleben punktuelles Sterben in Folge sinnlosen Mordens. Sinnlos in unseren Augen. Huntington prophezeite für das 21. Jahrhundert, und er wurde mehr als milde belächelt, den globalen Konflikt der Kulturkreise.
Es ist Panik ausgebrochen in gewissen einflussreichen Kreisen der muslimischen Welt. Westliches soziales, ökonomisches und politisches Denken sowie westliche Moralvorstellungen werden durch die schier unendlichen Pfade der Globalisierung in rasend schnellem Tempo über den ganzen Globus verbreitet. Das Digitale dringt überall unwiderstehlich durch jede gesellschaftliche Pore hindurch und transportiert Ideen und Anschauungen, die in nicht wenigen Gegenden der Welt unerwünscht sind. Die Gralshüter islamischer Kultur und Religion, so wie sie seit vielen Jahrhunderten im wesentlichen unverändert bestehen, müssen mit einer außerplanmäßigen und weites gehend unkontrollierten Aufweichung des islamischen Weltbildes rechnen. In ihren Augen sind die Grundpfeiler der islamisch geprägten Zivilisation in Gefahr, unterspült zu werden von den verhassten kulturellen, moralischen und religiösen Werten des europäischen „Erzfeindes“. Die Anziehungskraft westeuropäischer Lebensart und Lebensumstände auf weite Teile der muslimischen Bevölkerung kann von niemandem mehr geleugnet werden. Die Fluchtrichtung der Unglücklichen aus Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens spricht eine mehr als deutliche Sprache. Es ist ganz egal, welche Erklärungsmuster herhalten müssen, um die augenfällige geographische Fluchtrichtung zu deuten: das Bewußtsein der klaren Ausrichtung der verzweifelten Menschen in die verhasste Richtung ist und bleibt eine schmerzhaft blutende Wunde am geistigen muslimischen Überbau.
In den Augen dieser Gralshüter muss demnach gewaltig gegen gesteuert werden, will man nicht in historisch kürzester Zeit von einer unkontrollierten reformatorischen Welle erfasst werden. Der Arabische Frühling war diesbezüglich ein echter Warnschuss vor den Bug.
Es passiert genau das, was sie wollen. Und es gibt für sie nur eine mögliche gangbare Strategie. Sie führen den asymmetrischen Krieg, dem Westeuropa allein aus zivilisatorischen Gründen nicht gewachsen ist. Unsere Welt kann mit jungen Menschen, für die es offensichtlich etwas Wichtigeres gibt als ihr Leben, nichts, aber auch gar nichts anfangen. Durch ihr punktuelles Morden sollen unsere Gesellschaften mürbe gemacht werden. Mit Hilfe dieser asymmetrischen Taktik wird ein stetig wachsendes Ungleichgewicht zwischen dem Prinzip Freiheit und dem Prinzip Sicherheit provoziert. Westeuropa soll gezwungen werden, sich immer intensiver auf den Aspekt der Sicherheit zu fokussieren, die Freiheiten, die frühere Generationen in kleinen Schritten für uns erkämpft haben, sollen und müssen so peu á peu eingeschränkt und schließlich aufgegeben werden. Die geistige und praktische Bewältigung der so entstandenen sozialen und politischen Situation wird unweigerlich zu einer Spaltung der Gesellschaft führen. Bei der Ursachensuche und der Definition der gefundenen Ursachen der sich so gefährlich nahenden – vermutlich unangenehmen – historischen Situation wird es zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen kommen. In weiten Schichten der Bevölkerung wird Angst grassieren, die schließlich in Gegengewalt münden wird. Das wiederum wird unausweichlich zu einer Destabilisierung der Gesellschaften führen. Fremdenfeindlichkeit wird zunehmen, Abschottungsneigungen sind dann eine logische Folge dieser Destabilisierungstendenzen. Es wird sich ein Graben auftun zwischen den Kulturkreisen, im Kleinen wie im Großen, Westeuropa wird für Muslime an Attraktivität verlieren, weil Westeuropa, mürbe gemacht durch das unzählige sinnentleerte Morden, nicht mehr willens sein wird, humane Großzügigkeit gegenüber Menschen aus fremden Kulturkreisen walten zu lassen.
Das wichtigste Ziel der muslimischen Gralshüter wäre damit erreicht: der Aderlass an Mensch und Geist aus den dem Islam zugehörigen Gebieten wäre auf diese Weise weitestgehend gestoppt, ein Keil der Zwietracht zwischen den Kulturkreisen getrieben. Es passiert genau das, was sie wollen.
Unsere Zivilisation wurde von dieser unerwarteten historischen Entwicklung, die sie allerdings zum Teil selber durch die von keiner Vernunft gezügelten Globalisierung hervorgerufen hat, richtig kalt erwischt. Es bewahrheitet sich die prophetische Wahrsagung:
Jeder Fortschritt bringt seine eigenen Monster mit.
Man kann nur hoffen, dass wir schnellstens geeignete „Waffen“ finden, um dem Monster Paroli bieten zu können. Leider müssen wir aber nüchtern feststellen: geeignete „Waffen“ sind zur Zeit nicht in Sicht.
Und sollten wir es vielleicht mit den „Waffen“ doch noch in Bälde schaffen, dann wäre das schon mal ein neuer Fortschritt.
Selbstredend wird uns dann das dazugehörige Monster mit der gleichen Sendung zugestellt.