QUO VADIS, LIBERALISMUS?
Als der Kommunismus wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach, ließen die Propheten nicht lange auf sich warten.
Oberprophet Francis Fukuyama verkündete das „Ende der Geschichte“, womit er eigentlich den endgültigen und unumkehrbaren Sieg der Idee des Liberalismus meinte. Da nur liberale Staaten den langfristigen ökonomischen Erfolg garantieren können – so war die nahezu einhellige Meinung der „Experten“ – wird es zu einer Globalisierung des Liberalismus in allen Erdteilen kommen.
Die so prognostizierte globale Herrschaft des Liberalismus hat keine 2 Jahrzehnte gedauert. Das ist unbestritten weniger als ein Wimpernschlag der Geschichte. Chinas endgültige Etablierung als gleichrangige Wirtschaftsmacht mit den Vereinigten Staaten geriet zum ersten handfesten Realitätsschock in der Geschichte des politischen Liberalismus. Während China – ein durch und durch neokonfuzianisches Land und damit ideologisch diametral entgegengesetzt zum Liberalismus – in Wachstum und Stabilität gedeiht, erlebt der liberale Westen eine multidimensionale Krise. Soviel zu dem historischen Wert der Aussagen der „Experten“, übrigens ein Begriff, der bei uns immer mehr eine aufdringlichere und inflationärere Verwendung findet.
Der Chinese – als deren Repräsentant soll hier einer der Vordenker des kommunistischen Neokonfuzianismus Wang Huning genannt werden – legt denn auch genüsslich den Finger in die westlich-liberale Wunde: Er spricht von einem gesellschaftlichen Nihilismus, der sich im Spätliberalismus breitgemacht hat.
Indes: Die ursprüngliche Idee des Liberalismus kann alles andere als schlecht geredet werden. Der Liberalismus hat geliefert: einen nie dagewesenen Wohlstand für Millionen Individuen und für ganze Nationen. Er hat die Idee der persönlichen Freiheit zur weltweiten Geltung verholfen, er hat durch seine unnachahmliche Strahlkraft autoritäre, menschenunwürdige und -feindliche Ideologien wie den Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus zu Fall gebracht.
Gleichsam von sich selbst berauscht tritt aber der Liberalismus seit geraumer Zeit in seine unrühmliche Spätphase ein, verabschiedet sich zusehends in selbstzerstörerischer Manier, insbesondere durch den kulturellen Hyperliberalismus, von den Ideen und Gemeinschaften, die für Individuen, Völker und Nationen über Jahrhunderte hinweg wertestiftend waren: die Familie, der christliche Glaube und die Nation. Das Urteil jener, die diese Entwicklung intensiv verfolgen und zutiefst bedauern, ist vernichtend: Der Liberalismus kann aus sich selbst heraus keine sozialen Werte und somit keine gesellschaftlich relevante Orientierung mehr vermitteln.
Noch vor 60 Jahren gab es einen gesellschaftlichen Common Sense darüber, dass Familie, Glauben, Fleiß gepaart mit Strebsamkeit sowie Patriotismus ehrenwerte Ideale sind. Heute können sich die liberalen Gesellschaften nicht einmal darüber einigen, wie viele Geschlechter es gibt.
Dem Liberalismus war leider ein missionarischer Verbreitungseifer immer schon immanent. Dieses penetrante missionarische Sendungsbewusstsein speziell des heutigen kulturellen Hyperliberalismus weckt ungute historische Erinnerungen an die fanatischen Jakobiner Ende des 18. Jahrhunderts und an die ebenso fanatischen Kommunisten im 20. Jahrhundert. Jakobiner und Kommunisten folgten einer erbarmungslosen Ideologie, ihr Sendungsbewusstsein war von überbordender, hirnverbrannter Maßlosigkeit. Anders der Spätliberale: Er versteht sich keineswegs als Ideologe und realisiert es somit nicht, dass er durchaus einer ist.
Eine Person weiblichen Geschlechts hat hier in Deutschland das beste Beispiel dazu geliefert: Anstatt rational und tatkräftig die Interessen des eigenen Landes auf der weltweiten diplomatischen Bühne zu vertreten, hat sie sich missionarisch für die vom Spätliberalismus wohlgelittenen, wenn nicht gar vergötterten Werte wie Minderheitenrechte und Queerness eingesetzt. Diese sogenannte „feministische Außenpolitik“ der A. Baerbock war nichts anderes als der peinliche Höhepunkt und gleichzeitig ein Musterbeispiel missionarischer Außenpolitik, die in den letzten Jahren von der erdrückenden Mehrheit der Länder der Erde mit einem gnädig-mitleidigen Lächeln quittiert wurde.
Der geopolitische Pragmatismus weicht in der Denke heutiger Spätliberalen einem liberalen Imperialismus, der unausweichlich ökonomische Misserfolge und gesellschaftliche Instabilität im Schlepptau hat.
Dem liberalen Missionarismus hat nun Gottseibeiuns D. Trump rüde einen Riegel vorgeschoben. Lassen wir doch kurz Revue passieren, was sich in den letzten 3 Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten abgespielt hat:
Die Neokonservativen (Neocons), also vornehmlich die Elite der Ostküste, haben unsinnige und teure Kriege vom Zaun gebrochen: im Irak und in Afghanistan. Diese Kriege sind alles andere denn vergessen und sind immer noch ein tiefsitzendes Trauma des amerikanisches Volkes.(Zwei „Etagen“ tiefer sitzt übringens noch das alte Vietnam-Trauma). In diese Gemengelage greift Trump ein. Er konnte 2016 nur Präsident werden, weil er mit seiner „America First“-Politik ein maximaler Gegenentwurf zu den Neocons des Washingtoner Establishments war. Dieses Establishment ließ junge Männer aus der amerikanischen Unterschicht, beheimatet in den gottverlassenen Gegenden der amerikanischen Prärie, in ebendiesen Kriegen verheizen und sterben. Wofür? Um Demokratie und Liberalismus in den Nahen Osten zu exportieren. Ausschließlich historisch betrachtet war das, mit Verlaub, eine hirnrissige Idee. Hirnrissig weil unzweifelhaft chancenlos. Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts war und ist der Versuch, liberale Ideen in durch und durch muslimisch strukturierte Gebiete zu exportieren nichts Anderes als hanebüchener Unfug und zeugt von ignorantem und naiv-törichtem Verständnis historischer, politischer, kultureller und religiöser Gegebenheiten. Die Ostküsten-Elite, die über Jahre hinweg die Kriege im Nahen und Mittleren Osten als heilige Mission des Liberalismus hochhielt, schaute insgeheim auf jene Hillbilly-Familien in West Virginia oder Michigan herab, deren Kinder in den Sand- und Steinwüsten Asiens ihr Leben lassen mussten. Die Söhne und Töchter der feinen Liberalen südlich und nördlich von Washington hingegen mussten nicht zum Militär. Unbeschwert besuchten sie in dieser Zeit die amerikanischen Eliteuniversitäten.
D. Trump hat ein geniales Gespür für die Wut eines erheblichen Teils der amerikanischen Bevölkerung, die aus dieser liberalen Doppelmoral erwuchs.
Unterstreichen muss ich das wohl kaum: Bei uns würde es nicht anders aussehen. Die Kinder jener Entscheidungsträger, die ausschlißlich Waffen, Aufrüstung und Krieg im Sinn haben, würden im Fall der Fälle gewiss nicht an vorderster Kriegsfront zu finden sein!
Die Europäer – wohlgemerkt, Europas selbsternannte liberal-demokratische Elite – sind seit Wochen in einer kollektiven Schockstarre. J.D. Vance hat ihnen unmissverständlich klargemacht: Die Zeiten sind vorbei, in denen die USA die Rolle der liberalen Weltpolizei wird spielen können. Vor 30 Jahren waren die Vereinigten Staaten die Alleinherrscher einer unipolaren Welt. Das ist nun vorbei, weil sich die Amerikaner in der jetzige multipolaren Welt die Pax Americana einfach nicht mehr leisten können. Das haben Trump und seine Gefolgsleute begriffen und sie handeln pragmatisch und realistisch. Verschlafen haben indes diese Entwicklung die Europäer und die EU. Während der alte Kontinent noch an eine liberale Weltordnung glaubt, sind die USA längst in einer postliberalen Ära angekommen. Wie so oft in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg: Europa hinkt stets den – meistens von den Amerikanern diktierten – Realitäten hinterher. Europa muss endlich aufwachen und sich in dieser multipolaren Welt emanzipieren. Dafür müssen allerdings liebgewonnene, sich selbst beweihräuchernde politische Überzeugungen überdacht, angepasst, zum Teil verworfen werden.
Die geostrategischen und geoökonomischen Interessen der Europäer sind keinesfalls kongruent mit amerikanischen Interessen. Welches Interesse hat die deutsche Automobil- oder Chemieindustrie daran, die Wirtschaftsbeziehungen zu China zu beschädigen oder gar zu kappen? Essenziell ist aber ein Umdenken auf politischer Ebene. Europa und Deutschland wären gut beraten, wenn sie künftig einen neuen Realismus und interessenzentrierten Pragmatismus in der Diplomatie verfolgen würden. Wer in der heutigen und künftigen multipolaren Weltordnung nur mit lupenreinen Demokraten Geschäfte machen will, der ist verloren. Nur wenn Europa den gescheiterten liberal-missionarischen Eifer ablegt, wird es in den folgenden Jahrzehnten eine halbwegs ernstzunehmende Rolle auf der Weltbühne spielen können.
Apropos lupenreine Demokraten:
Erstens gibt es sie tatsachlich die wahrhaft Demokraten, aber es gibt keine lupenreinen und es gab sie auch nie. Und dass Putin weder Demokrat noch lupenrein ist, darf als Binse gelten.
Zweitens erleben wir bei den selbsternannten europäischen Demokraten eine aberwitzige Dämonisierung Russlands. Es geht – wohlgemerkt! – mitnichten lediglich um eine Dämonisierung des Kremlchefs, man könnte dafür sogar etwas Verständnis aufbringen, sondern Russlands und das könnte, mit Verlaub, eine gefährliche Eigendynamik entwickeln.
Ich persönlich geselle mich zu jenen, die den leisen Verdacht hegen, dass das auf diese Weise gemeinsam heraufbeschworene Feindbild Russlands auch ein Versuch ist, von der tiefen Krise des Liberalismus abzulenken. Man liegt nicht falsch, wenn man sich in dieser Hinsicht an eine gut bekannte Lehre der Geschichte erinnert: Zu allen Zeiten griffen die Herrschenden zu dem probaten Mittel des gemeinsamen Feindbildes im Ausland, um die eigene Legitimation zu sichern. Die Dynamik solcher Bestrebungen, die eigene Legitimation zu stärken, verführt Liberale immer mehr dazu, illiberale Methoden anzuwenden. So ist es bei uns in Westeuropa nahezu gang und gäbe, Bürger zu canceln, indem man sie als „Russlandversteher“ brandmarkt. Auch das einer Demokratie unwürdige Hochziehen von Brandmauern gegen politische Parteien soll Menschen unter Druck setzen, auf der scheinbar richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Europa, das seit 1945 unter dem wohlwollenden Schutzschirm der Vereinigten Staaten ein gemütliches politisches und wirtschaftliches Dasein hat führen dürfen, wird nun – aus dem heiteren Himmel – eine Bewährungsprobe auferlegt.
Die europäischen Länder müssen politisch, wirtschaftlich und militärisch für sich selber sorgen. Der alte Kontinent muss jeder Art von ideologisch gefärbten Ideen und missionarischen Weltverbesserungsutopien entsagen. Was uns Europäer in der künftigen Weltordnung weiterbringen wird, sind Politiker, die sich unter keinen Umständen als moralische Schulmeister der Welt aufführen. Auch wenn es ketzerisch wirkt, weil ich wider den Zeitgeist löcke: Mehr Bismarck wagen, das wäre angesagt! Nicht unbedingt Bismarcks imperialistisches Gedankengut, sondern sein Realismus ist gefragt, so wie er das in seiner nüchternen Feststellung kundtat: „Staaten haben keine Freunde.“ Angeblich wurde diese kurze Aussage von Charles de Gaulle ergänzt:“…keine Freunde, sondern nur Interessen“. Die Ergänzung hätte Bismarck gewiß sofort unterschrieben! Zwei historische Gestalten, die was von Geopolitik und Diplomatie verstanden…
Die Geschichte tritt in eine Phase ein, wo man nur mit unromantischem Pragmatismus und geopolitischem Realismus wird überleben können.