DENK ICH AN DEUTSCHLAND…
Geschichtsvergessenheit, Geschichtsignoranz und Geschichtsklitterung sind bekanntlich eine weit verbreitete geistige Seuche. Viele meiner deutschen Zeitgenossen/innen machen da keine Ausnahme.
Nachdem ab Mitte der 50-er Jahre des vorigen Jahrhunderts den Genossen Kommunisten in der DDR die eigenen Leute scharenweise dem paradiesischen Leben den Rücken gekehrt haben, weil sie den schon damals klar realitätsfernen Verheißungen der glorreichen kommunistischen Zukunft keinen Glauben schenken vermochten, errichtete die Staatsmacht eine Mauer und deklarierte sie kurzerhand in haarsträubender Stupidität zum antifaschistischen Schutzwall. Also eine Mauer gegen das Böse, gegen das vermeintlich Aggressive von außen. Dumm nur, dass das Böse diese Mauer gar nicht zu überwinden versuchte, dafür aber fielen um so mehr tödliche Schüsse auf Verzweifelte aus den eigenen Reihen. Die Schussanlagen waren bekanntlich nicht gegen West gerichtet, sondern gegen die eigenen Leute. Es war nichts anderes als eine trostlos-niederschmetternde Kapitulation vor der eigenen üblen kommunistischen Wirklichkeit.
Eine Mauer zu errichten -im vordergründig materiellen Sinne oder im feinnervig geistigen Sinne – ist die ultimative Offenbarung eines kolossalen Scheiterns der eignen Überzeugungen. In diesem Falle darf Überzeugung mit Ideologie gleichgesetzt werden.
Ist es eine erbärmliche Ironie der Geschichte oder ist es eine hanebüchene Tragikomödie, dass auch heute – stringent augenfällig nach den abgelaufenen Bundestagswahlen – genau an der gleichen Stelle, wo sich der antifaschistische Schutzwall anno dazumal durch deutsche Landschaften schlängelte, eine Mauer steht, die schwarz-rot-grünes Westdeutschland vom blauen Ostdeutschland trennt? Die Wahlkreisfärbungen: ein erneutes Trennungsmahnmal, diesmal demoskopischer und weltanschaulicher Natur.
Gotterbärmliche historische Tatsache: Diese Mauer wurde in einer Zeit angeblich demokratischer Werteordnung von dem ehemaligen Klassenfeind im Westen höchstselbst errichtet. Die Ostdeutschen haben ihre Freiheit und ihre Demokratie selber errungen. Durch tapferes und kluges Handeln. Das kann historisch nicht hoch genug eingeschätzt und gewürdigt werden! Die Westdeutschen haben ihre Demokratie samt Freiheit schlichtweg geschenkt bekommen. Zunächst fiel die alliierte Bombe auf sie, dann fielen die Geschenktüten (einige mit Rosinen) vom Himmel. Nichts, gar nichts haben sie sich erkämpfen müssen. Jetzt ziehen die Enkel der vom Weltkrieg arg gezeichneten deutschen Kriegsgeneration eine Mauer hoch!
Mauer ist Mauer. Ob aus Stein, Beton und Stacheldraht. Oder einer Mauer subtilerer, also geistiger Natur.
Eine Mauer ist immer ein Eingeständnis. Der eigenen, mit Angst behafteten Unsicherheit. Der eigenen Schwäche. Letztendlich der eigenen Ohnmacht.
Bekannt ist der Spruch: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“ Einige behaupten, diese Worte stammen von Voltaire. Vermutlich ist dem nicht so. Die Worte spiegeln aber ein aufklärerisches Ideal wider. Die Meinungsvielfalt nämlich. Vielleicht das höchste Ideal der Aufklärung schlechthin. Ohne diese Ideale ist Demokratie nicht denkbar. Es gibt in diesem Zusammenhang einen weiteren erwähnenswerten Spruch: „Wir glauben nicht an die Meinungsfreiheit, wenn wir sie nicht auch den Leuten zugestehen, die wir verachten.“ Diesmal ist der Autor unumstritten: Noam Chomsky. Beide Sprüche schlagen in die gleiche Kerbe: Die wichtigste Voraussetzung der Demokratie ist Freiheit. Noch genauer: die Freiheit der Bewegung und die freie Bewegung der Gedanken.
Man muss in der Geschichte etwas bewandert sein, um sich folgender Tatsache immer wieder bewusst zu werden: Im Laufe der letzten Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende wurden unzählige Mauern errichtet.
Bislang wurden ALLE niedergerissen. Meistens gewaltsam. Steinerne Mauern. Geistige Mauern.
Die brutale Realität: Es wurden daraufhin neue errichtet. Das Spiel ging stets von vorne los. Bislang fiel – früher oder später – jede Mauer.
Man kann es drehen und wenden wie man will:
Es ist einer Demokratie definitiv unwürdig, eine Mauer zu errichten. Jede geistige Mauer dient der Ausgrenzung. Jede Ausgrenzung setzt Ablehnung voraus und eine so entstandene ablehnende Ausgrenzung einer von der eigenen Überzeugung abweichenden Meinung trägt in sich stets einen totalitären Wesenskern.
Am 15. Juli 2017 schrieb ich hier auf Actaseptimana: „Einmalig und bahnbrechend sind der Wohlklang, der Scharfsinn und der Stil Heinrich Heines.“ Damals habe ich nicht im Geringsten daran gedacht, dass ich Heine Jahre später hervorkramen und zitieren werde. Zitieren muss:
„Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.“
Diese Verse schrieb er vereinsamt im Pariser Exil.
Um ihn herum wurde in seiner Heimat – die Herrschenden fürchteten seine spitze Feder und seine vom damaligen Mainstream abweichenden Gedanken – auch eine Mauer errichtet.
Eine geistige Brandmauer.
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Die aktuelle politische und historische Situation in Europa und die globalen geopolitischen Koordinaten, die gerade unter unseren Augen neu justiert werden, erfordern für unseren Kontinent und speziell für Deutschland dringendst Politiker, die in den allerhöchsten Sphären der Diplomatie beheimatet sind und sich hier auch meisterhaft auskennen.
Unser ehemaliger Außenminister Joschka Fischer hat sich dazu augenzwinkernd folgendermaßen geäußert:
„Friedrich Merz muss als Bundeskanzler die Qualität des Gründers der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, erreichen. Das ist die Flughöhe.“
Mir fällt dazu, so leid es mir tut, nichts anderes ein, als Goethes Faust:
Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
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